Wer hätte das gedacht? Die deutsche Mannschaft hatte Samoa 75 Minuten am Rand einer Niederlage. Foto (c) Keßler
Was diese deutsche Mannschaft heute auf den Rasen des Rugby-Wohnzimmers zauberte, war die beste Leistung seit dem überragenden Rumänien-Sieg vor 1,5 Jahren in Offenbach. Dass am Ende durch zwei ganz späte Samoa-Versuche in den letzten 180 Sekunden ein 28:42 auf der Anzeigetafel steht, wird der Leistung dieser Mannschaft nicht gerecht, bleibt aber nur ein kleiner fader Nachgeschmack. In allen Aspekten zeigte sich die DRV XV im Vergleich zum Portugal-Spiel und erst recht zum Hinspiel vor zwei Wochen in Samoa verbessert. Der Blick richtet sich nun für alle Beteiligten auf den November und Marseille - gegen Kanada, Hongkong und wahrscheinlich Kenia kann sich die deutsche Mannschaft im Repechage-Turnier das Japan-Ticket sichern.
Selbst am späten Nachmittag in Heidelbergs Süden war die Hitze rund um das Rugby-Wohnzimmer noch unerträglich, selbst für Zuschauer, die nicht 80 Minuten Rugby auf allerhöchstem Niveau spielen mussten. Über 30 Grad zeigte das Thermometer in der Neckarstadt heute an und damit war es wärmer, als in Samoa selbst. Die Stimmung unter den deutschen Fans war dennoch gut, vor allem freute man sich allerdings über den seltenen Besuch einer absoluten Top-Mannschaft und den Kriegstanz Siva Tau. Mit einer deutschen Überraschung hatte im Vorfeld kaum jemand gerechnet. Doch die deutsche Mannschaft hatte andere Pläne und lieferte heute ein großartiges Spiel ab.
Dabei hätte der Auftakt kaum schlechter verlaufen können und man hatte fast das Gefühl, dass der Siva Tau Wirkung entfaltet hat: Nach einem Missverständnis zwischen den deutschen Außen Coetzee und Pyrasch, sowie Schluss Hilsenbeck verteidigte in allerersten Minute niemand hinter der deutschen Defensiv-Linie. Der unglaublich erfahrene auf Innen spielende Verbinder Tusi Pisi nutzte dies gnadenlos aus und setzte einen Bodenroller hinter die deutsche Defensive zum ersten Versuch. Es sollte vorerst der einzige Defenvis-Lapsus bleiben und anders als in Spiel eins zwischen beiden Teams kam die deutsche Mannschaft postwendend zurück.
Der Schlüssel zur unglaublichen Leistungsverbesserung war in der Defensive die stark verbesserte Tackle-Leistung. Die ganze Woche über hatte die deutsche Mannschaft auf dem Trainingsplatz an den Tackles gearbeitet und abseits dessen über die Einstellung geredet und darüber, dass man sich gegenseitig mit Stolz erfüllen wolle. Das Resultat: Die zum Teil weit über 120 kg schweren Samoa-Stürmer schafften es selbst mit Anlauf selten über die Vorteilslinie und die „Angriffsmaschinerie“, wie es Kapitän Julius Nostadt im Anschluss beschreib, kam nie richtig ins Rollen. Samoa schaffte es mit seinen hocherfahrenen Top-Spielern selten die deutsche Defensive ins Schwitzen zu bringen.
In der Offensive wiederum traute sich die DRV XV nun viel mehr zu - während noch in Spiel eins kaum schnelle Bälle bis zu den Außen durchkamen, war die DRV XV nun umso expansiver und nutzte die ganze Breite des Feldes. Auch Samoa-Kapitän Chris Vui lobte im Anschluss die Spielfreudigkeit der DRV XV. Schnelle Bälle von Gedrängehalb Sean Armstrong auf die sich anbietenden Runner brachten auch die auf diesem Level hocherfahrenen Samoaner ins Schwitzen. Ein Offload von Timo Vollenkemper auf Jarrid Els war es dann auch, das die deutsche Mannschaft zum Ausgleich brachte.
Im Gedränge war die deutsche Mannschaft wie in Spiel eins klar unterlegen, schaffte es aber dennoch immer wieder unter Druck den Ball bei eigenem Einwurf irgendwie im Rückwartsgang herauszubekommen - Jarrid Els stellte sich dabei hervorragend an und konnte von der Acht aufbrechend sogar noch des öfteren ein paar wertvolle Meter machen. In der Gasse wiederum war die DRV XV klar überlegen und Sebastian Ferreira fischte immer wieder bei Bälle von Samoa-Hakler Matu’u ab - immerhin ein Super-Rugby-Sieger von 2016 mit den Hurricanes. Eben jener Ferreira zählte insgesamt zu den besten deutschen Spielern. Nicht zuletzt durch seinen Intercept, der schlussendlich zum zweiten deutschen Versuch führte.
Darüber hinaus gelang es der deutschen Mannschaft das Kickspiel gut zu dosieren und sich so wahlweise sich vom Druck zu entlasten, bzw. Samoa mit clever platzierten Kicks unter Druck zu setzen. Die zwei verpassten Straftritte zur Gasse waren die einzigen Makel im deutschen Kickspiel und das, obwohl Deutschlands sicherster Kicker Raynor Parkinson nach nicht Mal 20 Minuten mit einer Gehirnerschütterung vom Feld musste. Vier Minuten vor Schluss verpasste Marcel Coetzee per Straftritt die Chance auf die erneute deutsche Führung, als er das ovale Leder aus der eigenen Hälfte nur knapp unter den Querbalken jagte. Es wäre beim Stand von 28:28 eventuell der deutsche Sieg gewesen.
So steht am Ende nach zwei viel zu einfachen Kontern eine auf dem Papier viel zu deutliche Niederlage. Doch jeder, der dieses Spiel in Heidelberg vor Ort, oder bei DAZN am Schirm verfolgt hat, wird wissen: Diese deutsche Mannschaft hat den siebenmaligen WM-Teilnehmer ganz lange am Rande einer Niederlage gehabt. Die Rugby-Welt wird davon Notiz nehmen, kein Zweifel. Für einige der deutschen Spieler, die momentan noch nicht wissen, wo sie kommende Saison spielen, eine gute Bewerbung. Für das deutsche Rugby insgesamt eine tolle Visitenkarte.
Die Perspektive ist nun klar: Im November kann sich unsere DRV XV den allerletzten WM-Platz sichern, gleichbedeutend mit WM-Gruppenpspielen gegen Südafrika und Neuseeland beim drittgrößten Sportereignis der Welt in Japan - vor zehntausenden in den Stadien und Millionen am Schirm. Diese Aussicht wird die deutschen Spieler künftig mehr denn je antreiben. Die Querelen der letzen Monate sind vergessen. Alle haben ein gemeinsames Ziel und daraufhin muss das deutsche Rugby nun hinarbeiten. Die erste WM-Teilnahme überhaupt, sie ist realistischer als je zuvor. Jack Lam, einer der erfahrensten Samoa-Spieler zeigte sich gegenüber TR nach dem Abpfiff beeindruckt: „Deutschland hat uns heute überrascht. Wenn sie im November so spielen wie heute, holen sie sich das WM-Ticket.“
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