TR-Update Six Nations: Wales will die Scarlets-Revolution im Nationalteam vollziehen
Geschrieben von TotalRugby Team
Montag, 22. Januar 2018
So wie die Scarlets am Wochenende gegen Toulon, will Wales stärkere Gegner künftig mit Spielwitz und Schnelligkeit bezwingen.
Jahrelang hatte Wales unter Coach Warren Gatland mit einer einfachen Taktik durchschlagenden Erfolg und das nicht nur sprichwörtlich: Selbst für Profi-Rugby-Verhältnisse überdurchschnittlich breit gebaute Protagonisten, die vor allem mit überragender Fitness und geraden harten Laufwegen ohne Umweg in den Kontakt, nicht etwa mit cleveren Pässen oder Offloads, Lücken in die Defensiv-Reihen der Six-Nations-Rivalen rissen. Dazu mit Leigh Halfpenny der wohl beste Kicker der Welt in den eigenen Reihen, der jeden Straftritt im 60-Meter-Radius der Stangen durch selbe jagte. Doch sowohl die als „Warren-Ball“ verspottete Taktik, als auch der Stammplatz Halfpennys scheinen nun der Vergangenheit anzugehören. Vorbild der Wales-Revolution soll eines der vier walisischen Pro-14-Teams sein.
Als sich die West-Waliser Scarlets am Samstag im letzten Gruppenspiel des wichtigsten Europäischen Vereinswettbewerbs „Champions Cup“ mit 30:27 gegen die Galaktischen aus Toulon durchsetzten, könnte man dies auch als Zeichen einer Zeitenwende verstehen. Denn das in Europa dominierende Power-Rugby der letzten Jahre, durch niemanden besser verkörpert, als den Europacupsieger 2013, 2014 und 2015 Toulon, scheint mehr und mehr vom blitzschnellen Spielstil von Teams wie den Scarlets abgelöst zu werden.
Den Scarlets war am Wochenende als erstem walisischen Team seit sieben Jahren der Einzug in das Champions-Cup-Viertelfinale gelungen. Nachdem die West-Waliser bereits im Vorjahr beim ihrem Pro-12-Sieg gleich beide irische Top-Teams Leinster und Munster im Halbfinale und Finale jeweils auswärts ausschalten konnten, scheinen die Scharlachroten an ihre ganz großen Zeiten anzuknöpfen. Der Tag im Jahr 1972, als Llanelli der legendäre Sieg über die All Blacks gelang, sollte als „Tag an dem das Bier ausging“ in die Geschichte des kleinen Rugby-verrückten Landes eingehen.
Der jetzige sportliche Aufschwung wiederum gelang bemerkenswerterweise mit einem äußerst bescheidenen Budget - der einmalige Spielstil der Scarlets, nicht die prominenten Neuzugänge aus der Südhemisphäre, knackte in der letzten und dieser Saison reihenweise die namhaftesten Defensive. Das alles mit einigen Wales-Nationalspielern und einer ganzen Reihe von No-Name-Spielern im Kader, die nun mit dem Erfolg ihres Teams nach und nach auch im internationalen Rugby eine Rolle spielen dürften.
Bereits Bath bekam in der Vorwoche eine gehörige Portion Scarlets-Angriffswirbel zu spüren
Spielfreudigkeit und Kreativität statt schlichtes Überrennen
Die Devise des Teams aus der nur 50.000 Einwohner zählenden Stadt Llanelli lautet: Den Ball um jeden Preis am Leben und das Spiel damit schnell halten. Sei es durch gewagte Spielzüge tief in der eigenen 22, durch Offloads aus jeder erdenklichen Position und vor allem durch die Vermeidung von unnötigen Kicks. So gelang es den Scarlets ein ums andere Mal deutlich besser eingeschätzte und vor allem physisch vermeintlich klar überlegene Teams auszuschalten. Zudem erbrachte der amtierende Pro-12-Sieger den Beweis: Der risikoreiche, ansehnliche und gnadenlos offensive Spielstil der Neuseeland-Teams im Super Rugby ist auch im winterlichen Dauerregen von Wales möglich.
Spieler vom 110-KG-Plus-Format, wie Toulons Ma’a Nonu, Mathieu Bastareaud, Mamuka Gorgodze, die zuletzt den Erfolg der Galaktischen aus Südfrankreich mit dominanten Kollisionen in Defensive und Offensive sicherstellten, werden von den Scarlets schlicht in Grund und Boden gerannt. Genau dies war am Samstag im entscheidenden Gruppenspiel im ausverkauften Parc y Scarlets geschehen. Denn ein Ma’a Nonu mit seinen 110 kg bei nur 1,82 m Körpergröße ist eher auf die harten Hits, als auf die langen Laufduelle eingestellt. Regeländerungen durch den Weltverband World Rugby, um den Ball länger im Spiel zu halten - vor allem indem man das Langsammachen des Balles im Ruck schneller sanktioniert und schnelles Anspielen fördert - helfen Teams, wie den Scarlets extrem.
Erfolgsrezept auch für Wales? Scarlets bezwingen am Wochenende Toulon
Auch im Wales-Trainerteam um Warren Gatland und Rob Howley - einst die größten Verfechter des Power-Rugby-Spielstils - hat man die Zeichen der Zeit erkannt. Gatland erklärte auf der Pressekonferenz zur Bekanntgabe des Six-Nations-Kaders vorige Woche, dass man bisher auf einen Spielstil mit einem Zwölfer, der vor allem die Vorteilslinie durchbricht, gesetzt habe. Nun gehe es eher darum à la Scarlets das Spiel schnell zu machen und den Ball im Spiel zu halten. Allerdings erklärte der neuseeländische Erfolgscoach der Waliser seinen Sinneswandel mit dem ihm zur Verfügung stehenden Personal, nicht mit einer Anpassung an die Trends im Welt-Rugby. Für Innen Jamie Roberts, der wohl wie kein anderer den "Warren-Ball"-Spielstil verkörperte, ist kein Platz mehr im Wales-Kader für die Six Nations. Dafür schafften es Scarlets-Flanker Aaron Shingler und James Davies, die knapp zwei Jahre lang trotz überragender Form nicht einmal zum Nationalmannschafts-Training eingeladen wurden, in den Six-Nations-Kader. Hier zeigt sich ebenso der Sinneswandel - mit dem nur 90 kg schweren Davies kommt ein unglaublich mobiler Dritte-Reihe-Stürmer in den Kader, der eher Emfpänger eines Offloads, statt Crash-Ball-Option ist. Davies hatte seine Toulon-Gegenspieler auf Flanker, Rafael Lakafia und Facundo Isa, jeweils über 20 kg schwerer, überstrahlt.
Auch beim Klub vollzieht Potgieter einen ähnlichen Wandel
Auffälligerweise hat auch HRK-Coach und Ex-Nationaltrainer der DRV XV, Kobus Potgieter, in dieser Saison einen ähnlichen Sinneswandel vollzogen. Potgieter setzt mit Raynor Parikinson auf einen eher spielstarken ersten Innen. Mit Marcel Coetzee auf der Schluss-Position ergibt sich für den Klub mehr taktische Flexibilität, und insgesamt drei Kick-Optionen, die durchaus auch zum kreativen Offensivspiel eingesetzt werden können. Vorbei sind die Zeiten, in denen der deutsche Meister lediglich mit seinem starken Sturmspiel punkten konnte - durchaus mit Erfolg, wie der Klub-Versuch im Continental-Shield-Halbfinale, der mit einem tollen Cross-Kick von Verbinder Schulte eingeleitet wurde, gezeigt hat. Inwiefern aus dieser Entwicklung ein größerer Trend wird, bleibt abzusehen - England und Australien spielen jedenfall schon seit der letzten WM mit zwei Spielmachern auf der Zehn und Zwölf.
Ironischerweise könnte ein Scarlets-Star Opfer dieser Entwicklung sein: Wales-Schluss Leigh Halfpenny war nach zwei Jahren als einer der bestbezahlten Spieler der Welt aus Toulon zurück in die Heimat zu den Scarlets gewechselt. Von Wales Co-Trainer Rob Howley musste er sich nun vorgestern öffentlich anhören nach seiner Zeit in Frankreich zu oft den Ball wegzukicken, oder den Kopf in einem Ruck zu haben, anstatt von der Schlussposition aus die Gegenangriffe einzuleiten.
Mit Rhys Patchell steht eine hervorragenden Alternative im Scarlets- und Wales-Kader bereit, die eher für attraktives Angriffsrugby steht. Auch Liam Williams, der Halfpenny bereits den Schluss-Startplatz bei den ebenso von Warren Gatland trainierten British&Irish Lions abnahm, dürfte bald nicht mehr nur im Nationalteam Konkurrent Nummer eins um das Wales-Trikot mit der 15 sein, das Halfpenny seit der WM 2011 gepachtet hat. Nach dem Inkraftreten der neuen Kriterien des walisischen Verbandes zur Nationalmannschafts-Nominierung (min. 60 Caps sofern man nicht in Wales spielt) dürfte Williams wohl von den Saracens zurück zu seinem Stammklub Scarlets wechseln.
Wird Wales bei den Six Nations erneut auftrumpfen können?
Wie es um den neugefundenen Angriffswillen des Wales-Trainerteams steht, dürfte sich spätestens in zwölf Tagen zeigen. Dann eröffnen die Waliser gegen Schottland das Sechs-Nationen-Turnier. Den Schotten war in den letzten Jahren ein bemerkenswerter spielerischer Aufstieg gelungen, mit einem unglaublich ansehnlichen Spielstil. Die Fans im seit Monaten ausverkauften Millenium Stadium dürfte ein spielerisches Feuerwerk erwarten und früh dürfte sich entscheiden: Wird Wales mit seiner neuen Ausrichtung an die Erfolge von 2012 und 2013 anknüpfen können? Die Antwort darauf wird es für deutsche Fans übrigens bei DAZN geben. Die Online-Streaming-Plattform überträgt das älteste und prestigeträchtigste Rugby-Turnier mit deutschem Kommentar.