Ex-All Black Anton Oliver.
Auf einer Busfahrt nach Tarbes (in Südfrankreich) könnte ihn das Gefühl der Leere beschlichen haben. „Was mache ich hier?“, dachte er. Dieser Vorfall ereignete sich vor ungefähr 12 Monaten, er spielte für Toulon in Frankreichs zweiter Liga (Pro D2) und verdiente ungefähr 10x soviel wie seine Mutter als Krankenschwester in Neuseeland jemals verdient hat, aber Anton Oliver war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache – es war nicht seine Welt. Rugby nur noch für Geld zu spielen, das kannte und das wollte er in dieser Form nicht mehr. Sein ganzes Leben hatte er Rugby als Leidenschaft gesehen und eben diese Leidenschaft verspürte er nicht mehr.
Oliver war damals 32, gerade hatte er seine aktive Laufbahn bei den All Blacks beendet und wollte noch mal etwas anderes sehen in seinen letzten Tagen als Rugbyprofi. In Toulon war Tana Umaga sein Trainer, Victor Matfield, George Gregan, Andrew Mehrtens und Dan Luger waren seine Mannschaftskameraden und er war Teil eines Teams, das mit komfortablen Vorsprung die Liga anführte. Wäre das ganze 10 Jahre früher geschehen, als er jung war und hungrig nach Lebenserfahrung, wäre die Antwort auf die Frage was es für einen Sinn habe dort zu sein nicht nur das zu verdienende Geld gewesen.
Toulon gelang der Aufstieg in die Top 14 und sie boten ihm 250.000€ für eine weitere Saison, aber die einsame Saison in Frankreich hatte ihm vor Augen geführt, wer er war, und was er wollte. Er schlug das beste Vertragsangebot was ihm jemals unterbreitet wurde aus und entschied sich, an der renommierten Universität von Oxford ein Studium zu beginnen. Dort studiert er heute Management und Konversation. Wenn sein Körper mitspielt, wird er im legendären „Varsity match“ gegen Cambridge (das Spiel findet am 11. Dezember statt und Anton Oliver ist in der Startaufstellung) mit von der Partie sein und das Spiel mit einem Lächeln auf den Lippen als Amateur verlassen, genauso wie er es einst begonnen hat. „Ich habe noch ein großes Spiel in mir, das war’s dann“, sagt er.
Sein Gesicht ist das eines Kriegers; etwas mitgenommen, kantig, gezeichnet von den vielen Kämpfen, die er auf dem Rugbyfeld ausgetragen hatte, aber das Glänzen ist in seine Augen zurückgekehrt. Er bestellt sich täglich das Tagesessen in der Mensa, fährt mit dem Fahrrad zum Campus und zum Training und wohnt in einem Studentenwohnheim, er genießt ein Leben, in welchem Rugby immer noch einen Platz hat, aber nicht mehr den Ersten.
„Ich grinse immer noch, wenn ich darüber nachdenke, wie viel Geld ich ausgeschlagen habe.“ Aber der Professionelle Rugbyspieler Anton Oliver war schon viele Monate zuvor gestorben und zwar an diesem außergewöhnlichen Samstag Abend in Cardiff: Frankreich 20 Neuseeland 18. Die 6 Monate in Toulon waren nichts anderes, als die letzten Zuckungen eines bereits gestorbenen Körpers.
Er saß in der Umkleidekabine und war gerade aus der Weltmeisterschaft ausgeschieden. Er fühlte sich leer, sein Traum war ausgeträumt. Keine weitere Chance mehr, alles vorbei. Es kam jemand zu ihm und fragte ihn, ob er bereit wäre, seinem alten Mannschaftskameraden Andrew Mehrtens ein Interview für Neuseelands TV3 zu geben. Auf die Frage von Mehrtens, wie es denn nun in der Umkleidekabine gewesen sei, erwiderte er: „Es war beklemmend, einsam, es lag ein komischer Geruch in der Luft, keine Ahnung was für ein Geruch, vielleicht der des Todes.“
Später saß er immer noch in dieser Umkleidekabine, die anderen brachen bereits auf. „Ich wollte dieses Trikot nicht ausziehen. Es war ein symbolischer Akt für mich. Es war mein letztes All Blacks Trikot und ich wusste, dass sobald ich es auszog, würde mein Leben ein Anderes sein. Das gleiche Gefühl hatte ich, als der Bus uns am nächsten Tag zum Flughafen Heathrow brachte. Ich versicherte mich, dass ich der Letzte war, der den Bus verließ. So viele Neuseeländer würden sich wünschen, einmal in diesem Bus zu sitzen – und wenn es nur für einen 5-minütigen Rundgang wäre. Ich hatte 12 Jahre in diesem Bus verbracht, 1/3 meines gesamten Lebens. Ich wollte nicht, dass es vorbei war. Als ich den Bus dann endlich verlassen hatte, war mein Rugbyleben beendet.“
12 Jahre war er Teil der All Blacks, dem Aushängeschild der großartigsten aller Rugbynationen. In den letzten 3 Jahren war er Teil eines neuseeländischen Teams, das so ziemlich alles gewonnen hatte, was es zu gewinnen gab. Fast alles, außer dem einzigen Ding, was sie unbedingt gewinnen mussten. Welche Erinnerungen nimmst Du mit, von einer Geschichte, die bis zu dem absoluten Super-Gau so ziemlich das Beste war, was du jemals in deinem Leben erlebt hattest?
In Gedanken versetzte er sich 4 Jahre zurück, ins Jahr 2003. Damals hatte er zum ersten Mal das Gefühl, die Schnauze voll zu haben. Die Trainer John Mitchell und Robbie Deans hatten für ihn keinen Platz in ihrem WM-Kader, er hatte eine Biographie geschrieben und arrangierte eine Pressekonferenz, auf welcher er seinen Rücktritt als Aktiver verkünden wollte – und das mit 29 Jahren. Zwei Tage bevor er seinen Rücktritt verkünden wollte, kam der Anruf von Graham Henry, dieser fragte ihn, ob er bei der Saisonabschlusstour nach Europa mit dabei sein wollte. Er verschob seinen Rücktritt und packte seine Sporttasche.
„Ich war ein bisschen gelangweilt vom Rugby,“ sagte Oliver. „Die Zeit mit Mitchell und Deans ließ mich am Sinn der ganzen Sache zweifeln. Dann kam dieser Anruf und ich entdeckte, dass die All Blacks in meinem Herzen einen ganz besonderen Stellenwert hatten.“
Seine Wiederauferstehung begann an einem Samstagabend im November 2004, in Paris wurden die Franzosen mit 45-6 aus dem Stade de France gefegt. An diesem Abend waren die Stürmer der All Blacks beeindruckend gut und Graham Henry verließ das Stadium mit der festen Überzeugung, in Anton Oliver den richtigen Mann zu haben. In den 3 Spielzeiten ließ Henry das packendste Rugby spielen und schuf das stimulierendste Umfeld, welches Oliver jemals erleben durfte.
„Als All Blacks fühlten wir uns der Tradition und Geschichte verpflichtet und gleichzeitig dadurch gefangen. All Blacks tun dies nicht, All Blacks machen das nicht. Zum Beispiel darf dir im Training kein Ball runterfallen, weil ein All Black niemals im Training einen Ball fallen lässt. Es ist so eine unsinnige Aussage, aber so sahen wir uns. Als ich zurück in die Mannschaft kam, konnte ich sehen wie meine Hände auf Grund dieses Drucks zitterten.
Ich darf keinen Ball fallen lassen. Niemand dachte jemals darüber nach, einen guten Pass zu machen. Lass den Ball laufen, habe keine Sorge, spiel mit Flair und Extravaganz.
„Zu diesem Zeitpunkt war ich der Kerl aus Dunedin, welcher sich für die Umwelt einsetzte, Kunst liebte und der das Gefühl hatte, sich im konservativen Dunedin nicht gänzlich entfalten zu können. Genau deswegen konnte ich mich zu diesem Zeitpunkt mit den All Blacks so gut definieren, denn sie waren dabei sich, neu zu definieren und exakt in dieser Situation befand ich mich auch. Bei den All Blacks wurde eine Menge verändert, Altlasten wurden über Bord geworfen und wir näherten uns wieder mehr den Ursprüngen der All Blacks. Die 3 Trainer und Tana (Umaga, der damalige Kapitän der All Blacks) waren maßgeblich für diesen Prozess.“
Das Rugby war natürlich auch nicht übel. Jahr für Jahr TriNations Sieger, in Europa wurde so gut wie jedes Spiel gewonnen und die British und Irish Lions wurden 2005 geradezu vernichtend geschlagen. Oliver erinnert sich besonders an den zweiten Test gegen die Lions gerne zurück, in diesem Spiel zeigte Dan Carter eine schier unglaubliche Leistung, auch einige andere Spiele, beispielsweise gegen Australien, sind ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Aber all das brachte recht wenig im Hinblick auf die Weltmeisterschaft.
„Der World Cup hat Test Rugby entwertet. Die Europäer schicken C-Teams zu uns, kriegen mächtig auf die Mütze und ärgern sich noch nicht mal richtig darüber. Diese Spiele haben überhaupt keinen Wert. Aber der Mythos All Blacks verbietet es uns genauso zu handeln. Wir müssen zu jedem Zeitpunkt das beste uns zur Verfügung stehende Team aufs Feld schicken und wir müssen jedes Mal versuchen zu siegen. Das ist es, was es bedeutet ein All Black zu sein.“
Somit hat der World Cup nicht nur Test Rugby entwertet, es hat auch die All Blacks entwertet. Was passierte 2007? „Das Jahr zuvor waren wir heiß wie Feuer. Vielleicht sogar noch ein Jahr früher. Ich hatte früh das Gefühl, dass es 2007 nicht so gut für uns lief. In den Spielen vor der Weltmeisterschaft hat es nicht richtig klick gemacht, obwohl wir die meisten von ihnen gewinnen konnten, aber irgendetwas fehlte.“
„Graham Henry sprach davon, dass das Team auf die Leistungsspitze kommen sollte, in einen Zustand, in welchem man mental immer noch klar und motiviert ist. Wir versuchten unser Bestes, diesen Zustand zu erreichen, aber genau diese mentale Schärfe verloren wir 2007. Wir standen nicht mehr ganz so eng zusammen wie in den beiden Vorjahren, es war nicht die gleiche Einheit.“
Wie konnte dieses Gefühl verschwinden, als man es am meisten benötigte? Oliver möchte keine Spieler aus der Gruppe, die er als die besten All Blacks, die er jemals erlebt hat beschrieb, für diesen Umstand verantwortlich machen und auch keinen der 3 Trainer, für welche er nach wie vor den größten Respekt hat. Aber in den Monaten kurz vor der Weltmeisterschaft „machten wir den Fehler, in der Vorbereitung immer die gleichen Dinge zu tun. Denn wenn man mit den gleichen Jungs über so einen langen Zeitraum zusammenarbeitet, muss man sie vor neue Aufgaben stellen und neue Lösungswege aufzeigen.“
„Wir hatten ein brillantes Hierarchie-Modell in unserem Team – aber irgendwo blieb unser Enthusiasmus, der uns so stark gemacht hatte, im Jahr 2007 auf der Strecke. Ganz subtil wurde aus der Leidenschaft eine Verpflichtung. Ich habe damals zu niemandem irgendetwas gesagt, ich hoffte einfach, dass wir weiter unsere Spiele gewinnen würden, aber wir hatten etwas verloren. Dasselbe, was Roger Federer dieses Jahr verloren hat.“
Die Mannschaft arbeitete akribisch und zeigte sich mit Veränderungen des Spielkonzepts für die KO-Runde einverstanden. Zu diesem Zeitpunkt traf das Team im ersten europäischen Trainingslager auf Korsika ein, die perfekte Planung unserer Mission wurde schnell für jeden offenbar. „Tolle Hotels, perfekte Trainingsbedingungen und komfortable Siege in den Gruppenspielen. Aber im Hinterkopf beschlich uns das Gefühl, dass die Dinge einfach zu gut liefen. Es gab keine Rückschläge, nichts, was uns für diese eine Nacht vorbereiten sollte – die stärksten Korallen wachsen nun mal in der stärksten Strömung.“
Zu Beginn der zweiten Halbzeit des Viertelfinals im Millennium Stadion (Cardiff), fühlte er die ersten Anzeichen seiner Vorahnung. „Sie hatten gerade ihren ersten Versuch erzielt, Dusatoir und wir standen unter den Malstangen. Ich sah mich um und die Augen meiner Mannschaftskameraden waren glasig, sie schauten in die Zuschauerränge oder auf die Anzeigetafel, alle standen unter Schock. Wir waren wie auf einer einsamen Insel, abgeschnitten vom Rest der Welt. Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf den absoluten Super-Gau.“
Es waren viele Faktoren dafür verantwortlich, dass das Team außer Tritt gebracht wurde: Die gelbe Karte gegen Luke McAlister, die Verletzungen der beiden Verbinder Carter und Nick Evans, der nicht geahndete Vorwurf, der zum spielentscheidenden Versuch führte, die Unfähigkeit, aus der Überlegenheit der letzten 20 Minuten Kapital zu schlagen, die brillante französische Verteidigung und natürlich die Rolle des Teams. „Gemessen an unseren Ansprüchen haben wir schlecht gespielt. Wir haben es ihnen einfach gemacht, uns mit ihrer engen Verteidigung einzusammeln, wir haben zuviel gekickt und wir gaben einfach nicht 100%.“
Er wird niemals die Stimmung in der Umkleidekabine an diesem Tag vergessen. „Es herrschte eine unglaubliche Stile, nur durchbrochen von einzelnen, die diese Einsamkeit nicht länger aushalten konnten. Es ist verrückt, wenn man so viele erwachsene Männer heulen sieht, vor allem in einem Umfeld, welches angeblich so maskulin ist – die Umkleidekabine der All Blacks. Es waren die reinen Emotionen, welche hier zwischen den abgelegten Tapeverbänden, den leeren Flaschen und den ganzen Ausrüstungen des soeben verlorenen Kampfes zum Vorschein kamen.”
In dem Moment, in dem er damit kämpfte, sein schwarzes Trikot zum letzten Mal ausziehen zu können, verstand er besser als jemals zuvor, was es bedeutete ein All Black zu sein. „Ich wusste in dieser Nacht, dass mein Leben als Rugbyspieler beendet war. Ende. Die All Blacks zu verlassen ist ein bisschen wie der Mafia den Rücken zu kehren. Wenn du raus bist, bist du raus. Du bist weg und es gibt keinen Weg zurück. Die Rugbystiefel an den Nagel gehängt. Das war’s. Nie wieder.“
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