Lions und All Blacks mit zahlreichen Überraschungen-Kapitän Warburton und Savea nur auf der Bank
Geschrieben von TotalRugby Team
Freitag, 23. Juni 2017
Siebener-Speed für die All Blacks: Rieko Ioane ersetzt völlig überraschend Julien Savea auf Außen
Als am Donnerstag Abend die Aufstellungen beider Teams für das in der gesamten Rugby-Welt gespannt antizipierte erste Lions-Spiel gegen die All Blacks veröffentlicht wurden, trauten einige geneigte Beobachter ihren Augen nicht. Nicht nur wurde bei den Lions erstmals in ihrer fast 140-jährigen Geschichte ein Tour-Kapitän nicht im ersten Spiel aufgestellt, auch wurde bei den All Blacks der eigentlich als unverzichtbar geltende Winger im Jonah-Lomu-Format, Julian Savea, erst einmal auf die Bank verbannt. Was dies für die taktische Ausrichtung beider Teams bedeutet, darüber wird bereits heftig spekuliert, doch die Vorfreude auf den Kampf der Giganten schmälern diese Überraschungen nicht.
Das Spiel der All Blacks ist seit Jahren bekannt und wurde seit dem zweiten WM-Triumph der Neuseeländer im Jahr 2011 nur noch verfeinert. Die Männer von Coach Steve Hansen lauern auf gegnerische Ballverluste - entweder durch ihren extremen defensiven Druck oder durch geklaute Bälle in den offenen - und spielen dann gnadenlos mit der desorganisierten Defensive der gegnerischen Mannschaft Katz und Maus. Natürlich sind die All Blacks nicht die einzige starke Kontermannschaft im Welt-Rugby, doch was die Männer aus dem wohl Rugby-verrücktesten Land des Planeten so einzigartig macht sind die Fähigkeiten ihrer Spieler. Zum einen ist jeder Spieler der Neuseeländer, unabhängig von der Nummer auf dem Rücken, eine Gefahr in den offenen Gedrängen, so dass die All Blacks mehr Bälle erobern, als jede andere Nationalmannschaft.
Wenn es dann darum geht, nach einem Turnover die Schwachstellen in der tief aufgestellten Defensive zu finden, sind selbst die „Tight Five“ der Neuseeländer in der Lage den Ball schnell durch die Hände wandern zu lassen. Mit Hakler Dane Coles, der die Ruck-Fähigkeiten einer klassischen Sieben mit der Geschwindigkeit eines Außen verbindet, fehlt den All Blacks aber einer der wichtigsten Bausteine in ihrem Game-Plan. Kapitän Kieran Read hingegen wird, trotz einiger Zweifel an seinem Fitness-Zustand, von Beginn an auflaufen können. Nicht selten lungert der dynamische Achter an der Außenlinie und ist dort eine massive Gefahr für die gegnerischen Verteidigungsreihen - ohne dabei seine Hauptaufgaben als Dritte-Reihe-Stürmer außer Acht zu lassen.
Auf der 9-10 Achse vertraut Neuseelands Trainer Hansen am Samstag den mittlerweile seit der WM eingespielten Aaron Smith und Beauden Barrett. Der formstarke Gedrängehalb TJ Perenara von den Hurricanes wird dabei erst einmal auf der Bank verharren müssen, dürfte den Lions nach seiner Einwechslung mit seinem blitzschnellen Spiel und cleveren Bodenrollern noch zahlreiche Probleme bereiten - zumal er mit seinem Vereinskollegen und Verbinder Barrett optimal harmoniert. Ein weiterer Hurricane, Außendreiviertel Julien Savea dagegen, wurde durch Rieko Ioane ersetzt und wird neben seinem Bruder Ardie auf der Ersatzbank Platz nehmen. Angesichts von 46 Versuchen in 53 Länderspielen für den 26-jährigen Savea ist dies schon eine faustdicke Überraschung. Doch der erst 20-jährige Ioane, mit seinen 1,89 m bei 102 kg Körpergewicht nur ein klein bisschen weniger imposant als Savea, konnte bereits mit seinem Super Rugby Team Blues gegen die Lions überzeugen und selbst einen Versuch legen. Mit seiner Erfahrung von den letzten olympischen Spielen im Siebener sieht Coach Hansen den jungen Ioane als sichere Wahl - „Ioane ist bereit“ ist sich der Weltmeister-Coach sicher.
Bereits mit seinen Blues konnte Ioane den Lions einen Versuch einschenken
Auf Seiten der Lions hielt Coach Warren Gatland ebenso einige Überraschungen für die zahlreichen mitgereisten und daheimgebliebenen Lions-Fans parat. Erstmals in der langen langen Geschichte des Auswahlteams schaffte es ein fitter Kapitän, in diesem Fall der Waliser Sam Warburton, nicht in die Startformation der Lions. An seiner Stelle wird Irland-Flanker Peter O’Mahoney, der das Team bereis als Kapitän gegen die Maori All Blacks zu einem dominanten Sieg geführt hatte, gegen die All Blacks mit der Binde am Arm anführen. Doch während Warburtons Form in der britischen Fachpresse sowieso schon angezweifelt wurde, löste Maro Itojes Verbannung auf die Ersatzbank einiges an Stirnrunzeln aus. Die Karriere des Zweite-Reihe-Stürmers der Saracens war seit der letzten WM kometenhaft steil verlaufen und sein dominantes Spiel in den offenen Gedrängen sowie seine kompromisslose und blitzschnelle Defensive hatten ihm den Titel zum besten Spieler der abgelaufenen Saison in Europa gebracht eingebracht. Der jüngste Lions-Spieler im Kader wurde von vielen Experten als beste Waffe gesehen, um den überragenden Verbinder der All Blacks, Beauden Barrett, unter massiven Druck zu setzen. Denn Itoje ist ein bombensicherer harter Tackler, der zudem die Geschwindigkeit hat die Dreiviertelreihe unter Druck zu setzen.
Ebenso überraschend war die Tatsache, dass Leigh Halfpenny nicht als Start-Schluss auflaufen wird. Doch der bis dato überragend aufspielende Liam Williams, der mit seinen Scarlets die Pro 12 Liga gewinnen konnte, scheint im offenen Spiel die deutlich bessere Angriffs-Waffe zu sein. Nur hatte Williams erst am Dienstag die gesamten 80 Minuten gegen die Chiefs gespielt, was von vielen als sicheres Zeichen gewertet wurde, dass Halfpenny morgen auflaufen würde. Doch dessen überragende Kick-Qualitäten sind insofern ein wenig obsolet geworden, da Verbinder Owen Farrell rechtzeitig fit geworden ist. Sein Einsatz galt bis zuletzt als fraglich, aber die Tatsache, dass Johnny Sexton nicht einmal auf der Bank zu finden sein wird, sollte Zeichen genug für seine Fitness sein.
Wenn man nun aus der Aufstellung Rückschlüsse auf den Spielplan der Lions ziehen will, sollte man vor allem auf Gatlands Nominierung auf der zwölf achten. Dort wird mit Ben Te’o ein vergleichsweise unerfahrener Akteur zum Einsatz kommen. Der Rugby-League-Konvertit und gebürtige Neuseeländer mit englischen Vorfahren hat erst acht Spiele für England absolviert und davon gar nur eines als Starter. Seine Vorzüge sind eher im schnellen, harten und vor allem direkten Kontakt zu suchen, als in der Finesse beim Passen und Steppen. In der australischen NRL standen sich All-Blacks-Innen Sonny Bill Williams und Te’o oft genug im Sydney-Derby Roosters-Rabbitohs gegenüber und auch am Samstag wird es im Mittelfeld zu krachenden Kollisionen kommen.
Von Te'o wird Coach Gatland genau das erwarten: Harte Runs und gebrochene Tackles
Für diejenigen allerdings, die sich von Gatland einen offeneren Spielplan erhofft hatten, dürfte dies eine Enttäuschung sein. Eine Kombination von Johnny Sexton auf der Verbinder- und Owen Farrell auf der Innenposition wäre ein klares Zeichen für einen expansiveren interessanteren Spielansatz gewesen. Doch Lions-Trainer Warren Gatland scheint wieder einmal auf sein erprobtes „Warren-Ball“ Konzept - also den Gegner mit schierer physischer Dominanz zu erdrücken - zu setzen. Gegen Australien war diese Taktik 2013 komplett aufgegangen. Doch Neuseeland ist immer noch eine ganz andere Hausnummer. Morgen früh um 9:35 deutscher Zeit wird sich zeigen, wer die Nase vorn haben wird.