TotalRugby-Gastbeitrag: Schottland vor den Six Nations im Aufwind
Geschrieben von TotalRugby Team
Freitag, 27. Januar 2017
Beim deutlichen Sieg der Schotten gegen Georgien im November konnten die Bravehearts auch offensiv überzeugen. Foto (c) SRU Instagram
Es ist noch nicht lange her, da sah der einzige Spielplan der schottischen Rugby- Nationalmannschaft so aus, dass man den Ball möglichst schnell zum ,,Flying Dutchman'' Tim Visser beförderte und dann darauf vertraute, dass dem Flügelspieler etwas einfallen würde. Der gebürtige Niederländer Tim Visser kam erstmals 2009 nach Schottland und spielte jahrelang äußerst erfolgreich für die Pro 12 Mannschaft Edinburgh. Mit 115 Versuchen in 245 Pflichtspielen als Profi spricht seine Bilanz für sich. Das Problem in den Jahren 2012 bis 2015 lag allerdings darin, dass der Niederländer Visser oft die einzige Waffe im offensiven Arsenal Schottlands war. Und auch davor war Schottland bei den Six Nations lange nur Punktelieferant.
Es ist mittlerweile elf Jahre her, als Schottland letztmals mehr als zwei Siege bei den Six Nations gelangen - nämlich im Jahr 2006. Auch mit dem Neuseeländer Vern Cotter, der 2014 das Amt des Cheftrainers übernahm, verbesserten sich die Ergebnisse zunächst nicht. Die Six Nations 2015 endeten schließlich in einem besonders peinlichen Debakel, als selbst die dauerhaft chancenlosen Italiener mit einem Versuch in letzter Minute in Edinburghs legendärem Murrayfield Stadium den Sieg davontragen konnten.
2012: Schottland ist gegen die All Blacks chancenlos, doch Tim Visser erzielt zwei Versuche
Das unglückliche WM-Ausscheiden nach einer Fehlentscheidung fungierte als Initialzündung
Und so fuhren die Schotten dann auch nur mit gedämpften Erwartungen zur Weltmeisterschaft 2015 in England. Dies schien sich durch mehrere lethargische Vorstellungen in den ersten Halbzeiten gegen kleinere Rugyb-Mächte wie Japan oder die USA zu bestätigen, auch wenn dann im entscheidenden Spiel gegen Samoa der so wichtige Sieg gelang, der zum Erreichen des Viertelfinals reichte. Eine erwartbare Niederlage gegen Südafrika und drei Erfolge stellten nach der Gruppenphase dennoch eine zufriedenstellende Bilanz dar. Dem sollte dann allerdings ein dramatisches Viertelfinale gegen den späteren Vizeweltmeister Australien folgen, in dem Schottland unglaubliche 34 Punkte erzielen konnte und den ,,Wallabies’' schlussendlich dennoch unterlag. Hauptgrund dafür war die Entscheidung des südafrikanischen Schiedsrichters Craig Joubert, den Australiern in der letzten Spielminute einen unberechtigten Straftritt zuzuerkennen, den Bernard Foley zum 35:34- Endstand verwandelte.
Die verständliche Wut über diesen Fehler unter den schottischen Fans hatte zumindest den positiven Effekt, dass die eigene Leistung anerkannt wurde und sich die Anhänger für die Six Nations 2016 nicht nur wieder voll hinter die eigene Mannschaft stellten, sondern auch wesentlich positiver als 2015 in das Turnier hineingingen. Nach zwei knappen Niederlagen gegen England und Wales gelang dann im dritten Spiel in Rom auch endlich der Befreiungsschlag: Ein 36:20- Sieg gegen die Italiener bedeutete nicht nur die Revanche für die Blamage aus dem Vorjahr, sondern auch den ersten Sieg bei Europas Eliteturnier nach neun Niederlagen am Stück. Dem folgte dann zwei Wochen später in Edinburgh der erste Sieg gegen Frankreich seit einem Jahrzehnt - den entscheidenden Versuch erzielte, wer auch sonst, natürlich Tim Visser. Das letzte Spiel in Irland wurde dann wieder knapp verloren, änderte aber nichts daran, dass sich im schottischen Rugby langsam eine Aufbruchsstimmung breit machte.
Und das zu recht. Die Scottish Rugby Union (SRU) verfolgt seit Jahren eine breitangelegte Strategie, um den Sport im Land voranzubringen und dafür stellte 2016 einen wichtigen Meilenstein dar: In Edinburgh, Aberdeen, Galashiels und Cumbernauld wurden vier Rugby- Eliteakademien mit neuen Kooperationspartnern eröffnet, die nun Schottlands besten Nachwuchsspielern optimale Bedingungen auf dem Weg zum Profispieler bieten. Die beiden Profivereine, Edinburgh Rugby und die Glasgow Warriors, bekommen die besten Absolventen zugeteilt, während andere seit Januar 2016 als Leihspieler beim englischen Zweitligisten London Scottish Spielerfahrung sammeln können. Mit dem Klub, der 1878 von schottischen Rugbyspielern in London gegründet wurde, wurde die Zusammenarbeit nach einer kurzen Auseinandersetzung im Sommer letzten Jahres auch insgesamt wieder deutlich intensiviert. Darüber hinaus diskutiert die SRU auch die Schaffung weiterer Profivereine, die wie Glasgow und Edinburgh in der ,,keltischen'' Pro 12 mitspielen würden. Zu Beginn der Profiära hatte Schottland kurzzeitig zusätzlich noch die Border Reivers und die Caledonia Reds gestellt, die aber schließlich mit Edinburgh bzw. Glasgow zusammengelegt wurden, um die sportlichen wie finanziellen Ressourcen zu bündeln. Alternativ wurde auch der Plan einer eigenen Halbprofiliga mit zunächst sechs Vereinen vorgelegt, doch ist all dies noch Zukunftsmusik. Entscheidend ist dabei aber, dass die Infrastruktur im schottischen Rugby in den zehn Jahren seit der Auflösung der Border Reivers soweit verbessert wurde, dass eine Wiederbelebung weiterer Profivereine unter profitableren Voraussetzungen als damals überhaupt möglich erscheint. Auch die Spielerdichte ist deutlich größer geworden und wird durch die Etablierung der vier Eliteakademien wohl noch weiter steigen.
Vereinserfolge im Europapokal und neue Leistungszentren
Dementsprechend haben auch Edinburgh und die Glasgow Warriors in den letzten Jahren deutliche Fortschritte verzeichnen können. Die Warriors erreichten 2014 als erste schottische Mannschaft das Finale der Pro 12 und gewannen 2015 dann sogar den Titel. Und erst vor wenigen Tagen gelang den Glasgowern das erstmalige Erreichen des Viertelfinals im European Rugby Champions Cup. An der berühmten Welford Road mussten die Schotten am letzten Spieltag gewinnen, um sicher in die K.O- Phase einzuziehen. Die Leicester Tigers, englischer Rekordmeister und zweifacher Gewinner des Champions Cup, hatten in den letzten zehn Jahren im Europapokal nur ein einziges Heimspiel verloren und sind trotz eines leichten sportlichen Durchhängers an der Welford Road noch immer eine Macht. Seit 1905 hatten sie zuhause nicht mehr gegen eine schottische Mannschaft verloren, und vor 20 Jahren kassierte Glasgow hier 90 Punkte. Doch die Glasgow Warriors ließen sich von der Vergangenheit nicht beirren und nahmen die Gastgeber von der ersten bis zur letzten Minute auseinander. Am Ende stand ein sensationelles 43:0 für die Gäste, die Leicester damit nach dem 42:13 im Hinspiel das zweite Mal eine Rekordniederlage in diesem Wettbewerb und jetzt auch im Europapokal allgemein zufügten. Die Leistungen der Warriors spiegeln das gestiegene Potential und Selbstbewusstsein im schottischen Rugby gut wieder.
Die Höhepunkte von Glasgow's 43-0- Sieg in Leicester an der Welford Road
Viele ihrer Leistungsträger spielen auch für die Nationalmannschaft und an der Seitenlinie steht der erst 37- Jährige Schotte Gregor Townsend, der aus Galashiels in den Borders stammt - dem Stammland des schottischen Rugby. Einer glänzenden Spielerkarriere mit 82 Spielen für Schottland und der Berufung zu den British and Irish Lions folgte bei der SRU die Ausbildung als Assistenztrainer in verschiedenen Positionen, bevor er 2012 das Zepter in Glasgow übernahm. Die Fans im Scotstoun Stadium verehren ihn inzwischen als taktisches Genie und so war es keine Überraschung, als Townsend in den letzten Jahren zunehmend Interesse im Ausland weckte. Auch die SRU erkannte diese Gefahr, den besten einheimischen Trainer zu verlieren, und ernannte ihn prompt als Nachfolger Vern Cotters, der damit vorzeitig seinen Stuhl räumen muss, zum zukünftigen Nationaltrainer Schottlands.
Bevor Townsend im Sommer den Neuseeländer ablösen wird, stehen allerdings noch weitere Aufgaben an, nicht zuletzt ein Viertelfinale im Champions Cup in London beim Titelverteidiger Saracens. Und auch Edinburgh hat im Europapokal die K.O.- Runde erreicht: Nach einem sensationellen Sieg bei Tim Vissers Harlequins, ebenfalls in London, wurde der Hauptstadtverein gar Gruppensieger im Challenge Cup. In der Pro 12 läuft es zwar weniger gut, doch hat auch Edinburgh definitiv Potential. So stand die Mannschaft 2012 im Halbfinale des Champions Cup und 2015 im Finale des Challenge Cup. Außerdem stellt Edinburgh seit längerer Zeit auch Spieler für die Siebener-Nationalmannschaft, die die Vollprofi-Siebenerspieler den Kader ergänzen.
Im vergangenen Jahr gewann Schottland in London gar das erste Mal ein Turnier der renommierten Sevens World Series- auch die schnelle Version von Rugby, die ja immerhin im schottischen Melrose erfunden wurde, bietet also derzeit Anlass für Optimismus aus schottischer Sicht.
Auch die letzten Länderspiele bestätigten diese Tendenz. Nach einer kurzen Sommertour nach Japan mit zwei glanzlosen Siegen gab es im November Kräftemessen mit den Wallabies, Argentinien und dem aufstrebenden Georgien. Die erhoffte Revanche gegen den Vizeweltmeister scheiterte - erneut gewannen die Gäste in letzter Sekunde. Danach folgte aber zumindest ein Sieg des Willens gegen die „Pumas“ und ein deutlicher und überzeugender Erfolg gegen Deutschlands Rugby Europe Championship Gegner, die „Lelos“ aus Gerogien. Besonders offensiv wussten die Mannen von Vern
Cotter beim letzten Spiel in Kilmarnock zu überzeugen und genau daran soll am 4. Februar zum Beginn der Six Nations gegen Irland angeschlossen werden. Doch bei all dem Optimismus und der positiven Entwicklung der letzten Jahre- erst das Turnier mit Europas Besten wird zeigen, wie weit die „Bravehearts“ schon sind. Gute Leistungen und Ergebnisse im Herbst gab es schon oft - so etwa ein knappes 16-24 gegen die All Blacks im November 2014 - dem dann die desaströse Saison bei den Six Nations 2015 folgte. Dazu darf auch nicht vergessen werden, dass England zuletzt ganze 14 Spiele in Folge gewann, während die Iren im Herbst erstmals Neuseeland bezwangen und dem einen Sieg gegen Australien folgen ließen. Fast alle Experten sind sich einig, dass die beiden den Titel unter sich ausmachen werden. Darüber hinaus verfügt Wales noch immer über eine erfahrene Mannschaft mit vielen British and Irish Lions und auch Frankreich scheint sich wieder auf dem langen Weg zurück zu alter Stärke zu befinden.
Die Höhepunke von Schottlands klarem Erfolg gegen Georgien im Rugby Park, Kilmarnock (26. November 2016)
Gerade der Beginn des Turniers mit dem Heimspiel gegen die keltischen Cousins von der Insel und der Reise nach Paris ins Stade de France werden also für Schottland immens wichtig sein. Schlussmann Stuart Hogg von den Glasgow Warriors, zurzeit wohl der beste Spieler des Landes, betonte nach dem Kantersieg seiner Mannschaft in Leicester, dass die Schotten mit extrem hohem Selbstbewusstsein in das Duell mit Irland gehen werden. Er erinnerte auch daran, dass die Spieler in früheren Jahren oft Angst vor dem Beginn der Six Nations hatten, doch seien diese Zeiten nun vorbei. Der Erfolg der Warriors im Champions Cup war tatsächlich beispiellos und deswegen ist der Optimismus sicherlich nicht ganz unberechtigt.
"Glorious failure" Schottlands zu oft herangezogenes Mantra
Andererseits zeigte die erneute Niederlage gegen die Wallabies im November auch wieder die alte Schwäche der Mannschaft: In den entscheidenden Momenten fehlte oft einfach das letzte bisschen Konzentration, Qualität oder auch einfach nur Glück. Verlorene Spiele wie die letzten beiden Partien gegen die Australier passen perfekt zum „glorious failure“, dem glorreichen Scheitern, welches viele Schotten als Teil ihrer Mentalität selbst wahrnehmen. Besonders auch in sportlicher Hinsicht traf dies oft zu und viele Rugbyfans auf den britischen Inseln sind von der Existenz dieser ruinösen Eigenschaft noch immer überzeugt.
Es ist nun also an der Zeit, dies zu widerlegen. Inzwischen vertraut Vern Cotter nicht mehr nur auf Tim Visser, der für die Harlequins in dieser Saison allerdings erneut bereits sieben Versuche erzielt hat. In der Hintermannschaft hat der schon angesprochene Stuart Hogg in den letzten Jahren so sehr beeindruckt, dass Harry- Potter- Schöpferin Joanne K. Rowling ihn als schottischen Zauberer offiziell in das von ihr erdachte Universum aufnahm. Auf dem Flügel konkurrieren Glasgows Tommy Seymour und Sean Maitland von Champions-Cup-Sieger Saracens mit Tim Visser, während auf den Dreiviertelpositionen gleich sechs gute Spieler um zwei Startplätze kämpfen. Verbinder Finn Russell leitet das Spiel der Warriors sowie der „Bravehearts“ und wusste auch im Champions Cup zu gefallen. Allerdings folgen bei dem 24- Jährigen aus Stirling auf Weltklasseleistungen oft enttäuschende Spiele und an der Konstanz wird er noch arbeiten müssen, gerade auch, weil auf dieser Position wirklich starke Alternativen nicht in Sicht sind.
Ähnlich sieht es bei Gedrängehalb und Mannschaftskapitän Greig Laidlaw aus. Mit 31 Lenzen wird in naher Zukunft ein fähiger Nachfolger für den Neuner gefunden werden müssen, doch verrichtet Laidlaw derzeit noch sehr verlässlich seine Dienste. Im Sturm hat sich Schottland zuletzt erneut mit einigen für Edinburgh und Glasgow aktiven Südafrikanern verstärkt, doch glänzen inzwischen auch eigene Talente wie der gerade 21 gewordene Prop Zander Fagerson. In der zweiten Reihe haben die Gray- Brüder Richie (27, Toulouse) und Johnny (22, Glasgow Warriors) nachhaltig überzeugen können, was alleine schon Johnnys Tackle-Statistiken belegen, die im Weltrugby zurzeit unerreicht sind. Dazu sticht besonders Flanker John Barclay heraus, der sein Geld bei den Scarlets im Westen von Wales verdient und dort Kultstatus genießt.
Insgesamt ergibt sich so eine ausgewogene Mischung von jungen und alten Spielern, die vom erfahrenen Trainer Vern Scotter trainiert werden. Besonders in der Hintermannschaft ist die Qualitätsdichte im Kader vielleicht höher als jemals zuvor im Zeitalter des professionellen Rugby und die Ergebnisse von Glasgow, Edinburgh und der Siebener- Auswahl machen Hoffnung, dass auch die 15er- Nationalmannschaft ihre positive Entwicklung fortsetzen kann. Der Spielplan der Six Nations hält einige Herausforderungen für die ,,Brave Hearts'' bereit und vielleicht steht am Ende wieder nur ein „glorious failure“. Doch die Qualität ist dieses Mal da, um dem Beispiel der Heldentaten der Warriors in Europa zu folgen. Und wenn am Ende dann doch wieder Tim Visser den entscheidenden Versuch erzielen sollte, hätte sicherlich niemand etwas dagegen einzuwenden.
Dieser Beitrag wurde von unserem Leser Julian Gieseke verfasst, der sich als Schottland-Fan seit langem mit den Geschicken seines Lieblings-Teams befasst. Für seinen umfangreichen und gut recherchierten Beitrag wollen wir ihm an dieser Stelle danken!