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Stell dir vor, es ist Rugby, und keiner pfeift …
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Geschrieben von Max Joachim   
Donnerstag, 6. Mai 2010

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Zeigen die Schiedsrichter dem deutschen Rugby bald die rote Karte?

Wer kennt das nicht? Zwei Mannschaften stehen in einem deutschen Regionalliga-Spiel an einem Sonntag im März auf dem Platz, nur einer fehlt: Der Schiedsrichter. Ein anderes Szenario: Bei einem Nachwuchsturnier muss der Trainer einer der beiden Mannschaften das Spiel leiten, die gerade gegeneinander spielen und jeder fragt sich: Haben wir denn keinen neutralen Schiedsrichter? Wie kann es zu solchen Situationen kommen? Wie schlimm ist es um das Schiedsrichterwesen in Deutschland wirklich bestimmt?

Am einen Ende der Skala sind wir in Deutschland in der glücklichen Lage, einige Schiedsrichter auf Top-Niveau, teilweise sogar auf Weltniveau, zu haben. Da gibt es zum Einen Dana Teagarden, die bereits bei der IRB Sevens World Series gepfiffen hat oder Kjerstin Ljungdahl, die das finale der Hong Kong Sevens im Frauen-7er-Rugby geleitet hat, sowie bei der 15er-Frauen-Weltmeisterschaft 2006 im Einsatz war.

Auch ihre männlichen Kollegen sind erfolgreich. Frank Himmer zum Beispiel, der erst seit 2007 als Schiedsrichter unterwegs ist, konnte mittlerweile Länderspiele in sechs Ländern leiten, war bei den U18-Europameisterschaften 2009 und 2010 im Einsatz – 2010 leitete er das Finale der A-Gruppe zwischen Frankreich und Irland – und blickt auf einige tolle Erlebnisse bei IRB-Lehrgängen in Paris, Madrid und Südafrika zurück. Jens Reinecke kann auf ähnliche Erfahrungen verweisen und war zum Beispiel bei den 7er-Europameisterschaften 2008 und 2009 in Hannover im Einsatz.

Auch wenn Himmer und Reinecke aufgrund ihres Alters vermutlich nicht auf allerhöchstem Weltniveau zum Einsatz kommen werden, sind sie doch Vorbilder für junge Nachwuchsschiedsrichter, die sich selbst bereits einen Namen in Deutschland gemacht haben. Florian Forstmeyer (Heidelberg) und Carlo Schomacker (Hohen Neuendorf) pfeifen mittlerweile in der ersten Bundesliga und werden bei internationalen Spielen und Turnieren eingesetzt.
Am anderen Ende der Skala müssen Betreuer oder Zuschauer bei Ligaspielen, vor allem in Regional- und Verbandsligen, oder Nachwuchsturnieren selbst zur Pfeife greifen, wenn ein angesetzter Schiedsrichter nicht auftaucht oder der verantwortliche Schiedsrichterverband niemanden ansetzen kann – es gibt einfach nicht genügend Leute. Genau diese Szenarien treten immer häufiger in Niedersachsen auf. Dort grassiert der Verletzungsfluch, wodurch gleich vier Schiedsrichter derzeit nicht einsetzbar sind. Außerdem müssen in Hannover für einen Erstliga- und mehrere Zweitligavereine jedes Wochenende Schieds- und Linienrichter angesetzt werden. Was hier getan werden muss, ist klar: Die ansässigen Vereine müssen kurzfristig mithelfen, geeignete Kandidaten für eine Schiedsrichterausbildung, mit dem Ziel mindestens zweite Bundesliga zu pfeifen, zu finden. „Sonst werden bald einige Spiele gar nicht mehr besetzt werden können“, so Himmer. Wie ernst die Situation ist, zählt Niedersachsens kommissarischer Schiedsrichterobmann Ralf Tietge nüchtern auf: „Der Bedarf an Schiedsrichtern in Niedersachsen liegt bei 47 Personen bei einem Schiedsrichter je gemeldeter Mannschaft. Wir haben aktuell 18 Schiedsrichter, die mehr oder weniger regelmäßig einsetzbar sind. Davon sind 3 regelmäßig in der ersten Liga außerhalb Niedersachsens im Einsatz, weitere 4auf unbestimmte Zeit verletzt und 6, die gerade erst ihre Ausbildung beendet haben.“

In Baden-Württemberg gibt es schon die zweite Saison in Folge keine oder nur selten unparteiische Linienrichter für die Spiele in der 1. Bundesliga. Die darf sich dann der angesetzte Schiedsrichter kurz vor dem Spiel selbst akquirieren, was eigentlich ein unhaltbarer Zustand angesichts der räumlichen Verteilung der Mannschaften ist.
Man sollte denken, dass den Vereinen am meisten daran gelegen ist, neue Schiedsrichter auszubilden und zu fördern, doch Tietge zeichnet ein anderes Bild: „Die Änderung der Spielordnung in Niedersachsen, wonach die Vereine verpflichtet wurden, Schiedsrichter auszubilden, bzw. ausbilden zu lassen, greift nicht. Man ist anscheinend bereit, eher unnötig Strafgelder zu bezahlen, anstatt massiv Werbung für diesen Bereich zu machen. Ich muss zugeben, dass ich auch nicht mehr weiter weiß.“

Natürlich gibt es auch positive Tendenzen, wie in Brandenburg, wo die Zahl der Schieds- und Linienrichter innerhalb von einem Jahr von zwei auf acht hochschnellte. Auch in Niedersachsen, wo im Oktober 2009 ein Juniorschiedsrichterlehrgang mit zwanzig Jungen und Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren stattfand, arbeitet man eifrig am Schiedsrichternachwuchs. In Hessen gibt es mittlerweile ebenso ein Schiedsrichternachwuchsmodel der Hessischen Rugby-Jugend. Dort starteten die Jung-Schiris bei Hallenturnieren im Winter erfolgreich ihre Schiedsrichterkarriere. Für den Verantwortlichen der HRJ, Ron Esser, liegen die Vorteile auf der Hand: „Die Jugendlichen werden in der Regelkunde sicherer, was ihnen im eigenen Spiel hilft. Über den sozialen Wert für die Jugendlichen muss man sich nicht weiter auslassen, auch wenn sie natürlich wie alle anderen Schiedsrichter entschädigt werden. Hierzu noch eine ganz persönliche (Rugby-) Vater-Meinung: Lieber ein bisschen Taschengeld mit Schiedsrichtern verdienen, als mit Zeitungsaustragen, oder?“

Hinzu kommt, dass das deutsche Ausbildungssystem eines der besten Europas – außerhalb der Profinationen – ist. Das Ergebnis dieses Systems sind die oben erwähnten Länderspieleinsätze für die deutschen Topschiedsrichter. „Die Ausbildung ist vorbildlich“, findet auch Himmer und deutsche Spieler, die im Ausland tätig sind, attestieren den deutschen Schiedsrichtern ein gutes Niveau – es sind einfach nur zu wenige. Zudem hat man mit Kerstin Ljungdahl (Ost), Klaus Blank (Süd), Werner Cromm (West) und Ralf Tietge (Nord) vier vom IRB ausgebildete Schiedsrichtercoaches zur Verfügung, um eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu gewährleisten. Die Rahmenbedingungen sind also gut und vor allem zukunftsträchtig.

„Das heißt aber noch lange nicht, dass alle Probleme gelöst sind“, warnt Schomacker. Vereinzelte Aktionen, wie wir sie eben kennengelernt haben, sind eher Tropfen auf den heißen Stein, wenn man bedenkt, dass der Spielbetrieb in Deutschland, vor allem im Nachwuchs-, Schul- und Grassrootsrugby rasant zunimmt und wenn es auch sehr löblich ist, dass mehr Nachwuchsschiedsrichter ausgebildet werden, wird es wohl doch noch eine ganze Weile dauern, bis diese auf hohem oder gar höchstem deutschen Niveau pfeifen können. Derweil muss man sich fragen: Warum gibt es in der 1. Bundesliga nicht 10 Schiedsrichter, also von jedem Verein einen? Was zudem bedenklich stimmt, ist die Tatsache, dass im aktuellen Entwicklungsplan des DRV eine rasante Entwicklung im Spielerbereich forciert werden soll, der weder Schiedsrichter noch Trainer folgen können, da deren Entwicklung Ausbildung dort nicht vorgesehen bzw. unterrepräsentiert ist. Sollte dieser Plan auch nur ansatzweise Wirklichkeit werden, wird das Schiedsrichterwesen, bei allen positiven Rahmenbedingungen, nicht hinterherkommen.

Vielleicht wurde bisher nur der falsche Ansatz gewählt? Eventuell muss die Rolle des Schiedsrichters entmystifiziert werden. Es ist tatsächlich der Fall, dass es derzeit im deutschen Rugby Verbalattacken durch Trainer und Betreuer gegen die Unparteiischen gibt und den beteiligten Vereinen scheint es nicht möglich, diese Attacken zu reglementieren, ebenso wie das vermehrte Aggressionspotential von Jugendspielern gegenüber Schiedsrichtern. Klar sind einige Schiedsrichter mit den Spielen, mit denen sie betraut sind, noch oder wieder überfordert, was sicherlich auch den Verantwortlichen nicht entgeht, doch leider gibt es nur selten Alternativen in der Ansetzung solcher Spiele. Vielmehr sollten solche jungen bzw. unerfahrenen Schiedsrichter von allen Seiten unterstützt und mit dem nötigen Respekt behandelt werden. So könnten Vereine viel mehr die Möglichkeit nutzen, Trainingseinheiten mit Schiedsrichtern einzubauen oder gar ganze Ausbildungsblocks im Rahmen der Trainerausbildung zu integrieren, um die beidseitigen Intentionen kennen und anwenden zu lernen. Auch Tietge hat sich „in der Arroganz eines Aktiven“ über die schlechten Leistungen der Schiedsrichter aufgeregt. „Heute würde ich als Trainer anders reagieren, da ich beide Seiten verstehen kann.“

Diese Schritte führen natürlich noch nicht zu einer Vergrößerung der Anzahl der Schiedsrichter. Hier kommen die Vereine ins Spiel. Es ist ein Fakt, dass die Clubs relativ viele Spielerinnen und Spieler im Alter zwischen 15 und 20 Jahren verlieren, die erkannt haben, dass sie eventuell nicht gut genug für die 1. Mannschaft sind und zum „Bankdrücken“ will niemand trainieren. Auch die Problematik der Verletzungsanfälligkeit wird häufig als Argument angeführt, besonders wenn man die derzeitige Arbeitsmarktsituation in Betracht zieht. Mit gezielten Ansprachen könnten diese Rugbybegeisterten jedoch für die Bereiche Trainer und Schiedsrichter gewonnen werden. Deren Ausbildung nicht zudem auch nicht so viel Zeit in Anspruch, wie die Aufgabe als Trainer. Wenn man nun noch in Betracht zieht, dass einem, solange man hart an sich arbeitet, Möglichkeiten offen stehen, die man als aktiver Spieler wahrscheinlich nicht erreichen kann, dann könnte dies eine echte Alternative für viele sein.

Wie kann man aber junge Leute davon überzeugen, selbst zur Pfeife zu greifen? Laut Tietge ist das Wesentliche, „dass man lernt, über den Tellerrand zu schauen. Wenn man pfeift, ist es egal, welche Mannschaft dort spielt, weil man viel zu sehr mit dem Spiel beschäftigt ist.“ Hinzu kommt, dass man lernt, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Als Schiedsrichter muss man permanent etwas entscheiden, denn es läuft in Bruchteilen von Sekunden ab: Ist das regelgerecht, was ich da sehe? – ja/nein – Wenn ja, geht es weiter; wenn nein: wer hat ein Vergehen begangen? – Ist das Vergehen relevant für die Spielsituation? – Wie sollte es geahndet werden? – und schon geht dieser Zyklus von vorne los. Niemand kann dem Schiedsrichter die Entscheidungen im Spiel abnehmen und so muss dieser lernen, diese Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen. Das bedeutet aber auch, dass man lernen muss, Fehler eingestehen zu können.

Für Himmer sind es auch die einzigartigen Regeln des Rugbysports, die den Reiz des Pfeifens ausmachen: „Ich muss mich als aktiver Schiedsrichter ständig mit dem Spiel, mit den verschiedenen Mannschaften, mit den Spielern, den Regeln, einfach mit Rugby auseinandersetzen und darauf vorbereiten. Das Spiel zu verstehen und zu lesen und die Regeln umzusetzen, das macht den Reiz und das Besondere aus.“ Für ihn sind es auch der Spaß, die Erlebnisse, erfolgsorientiertes Handeln und Selbstreflexion, die die Rolle des Schiedsrichters mit sich bringen.

Überlassen wir also das Schlusswort nochmals Ralf Tietge: „Erst wenn wir alle den Job des Schiedsrichters als einen wesentlichen Bestandteil unseres Sports verstehen und ihn bei allen Emotionen eines Spieles respektieren, werden wir auch in diesem Bereich wieder wachsen können und auch erst dann wird flächendeckend die Qualität stimmen.“

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Kommentare (5)add comment

Constantin Hocke said:

111
Super
Super Bericht Max, vielen Dank!
Mai 06, 2010

Christian Pfusch said:

102
...
Dieser Bericht ist sehr wichtig. Zeigt er doch auf, wo und wie die Problematik "Schiedrichter" im Moment aussieht. Auch in meinen Verein, haben wir zur Zeit keine Schiedsrichter, obwohl wir in früheren Jahren immer mit federführend waren. z.B. Gerhard Hornung, Helmut Hunger, Reinhold Heinemann etc. Lang, lang ist es her.....
Danke Max
Mai 06, 2010

Klaus-Uwe Gottschlich said:

328
Schiedsrichterproblematik in Deutschland
In Rheinland-Pfalz haben die Schiedsrichterobleute KU Gottschlich und Harald Ströher innerhalb kurzer Zeit (1 1/2 Jahren) ein funktionierendes System aufgebaut. Bis auf zwei Spiele konnten bisher auch diese Saison alle Reginalligabegegnungen mit vereinsneutralen Schiedsrichtern besetzt werden. Es ist vor allem auch eine Frage der Organisation und Motivation durch die Verantwortlichen. Lehrgänge mit Klaus Blank und Werner Cromm waren dazu sehr hilfreich. Schwierigkeiten bereiten ab und zu die wenigen "blindwütigen" Spieler und Funktionäre, vor den die Schiedsrichter geschütz werden müssen.
Mai 06, 2010

nina corda said:

1091
...
top! das wurde echt zeit, diese problermatik mal zu beleuchten.
insebesondere:
"Vielleicht wurde bisher nur der falsche Ansatz gewählt? Eventuell muss die Rolle des Schiedsrichters entmystifiziert werden. Es ist tatsächlich der Fall, dass es derzeit im deutschen Rugby Verbalattacken durch Trainer und Betreuer gegen die Unparteiischen gibt und den beteiligten Vereinen scheint es nicht möglich, diese Attacken zu reglementieren, ebenso wie das vermehrte Aggressionspotential von Jugendspielern gegenüber Schiedsrichtern. Klar sind einige Schiedsrichter mit den Spielen, mit denen sie betraut sind, noch oder wieder überfordert, was sicherlich auch den Verantwortlichen nicht entgeht, doch leider gibt es nur selten Alternativen in der Ansetzung solcher Spiele. Vielmehr sollten solche jungen bzw. unerfahrenen Schiedsrichter von allen Seiten unterstützt und mit dem nötigen Respekt behandelt werden. So könnten Vereine viel mehr die Möglichkeit nutzen, Trainingseinheiten mit Schiedsrichtern einzubauen oder gar ganze Ausbildungsblocks im Rahmen der Trainerausbildung zu integrieren, um die beidseitigen Intentionen kennen und anwenden zu lernen. Auch Tietge hat sich „in der Arroganz eines Aktiven“ über die schlechten Leistungen der Schiedsrichter aufgeregt. „Heute würde ich als Trainer anders reagieren, da ich beide Seiten verstehen kann.“"

ich habe selber vor einiger zeit einen lehrgang absolviert, aber niemals ernsthaft gepfiffen (ich glaube, beach kann man nicht wirklich zahlen), weil ich mir nach ein bisschen multiple choice theorie einfach nicht zutraue, ein herrenspiel zu pfeifen. und ich bin sonst eher nicht schuechtern ;-)
kinder, an denen man ueben kann, haben wir hier leider nicht.
einen praxisorientierten lehrgang in raeumlicher naehe wuerde ich sofort wahrnehmen!
Mai 06, 2010

Sergey Bekgulyan said:

803
hoschschulstudium "schiedsrichter"
wieso gibt es keinen entsprechenden studiengang an den SpoHos?wäre sonst ne coole Sache. Universales Schiedsrichterwesen,egal ob fusi,rugby,tennis....mind 15 sportarten,regeln sowie übrigen verhältnisse drauf und runter,praxiseinsätze...zack,hat man einige schiris mit nem abschluss,die überall eingesetzt werden können.
Mai 06, 2010

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