Die WM-Teams aus der zweiten Reihe - wem gelingt die Überraschung bei der WM?
Geschrieben von TotalRugby Team
Samstag, 26. August 2023
Es war ein historischer Sieg: Noch nie hatte Fidschi gegen England gewonnen, noch nie hatte England gegen ein Tier 2 Team verloren.
Der historische 30-22 Sieg Fidschis in Twickenham am Samstag hat Rugby-Fans auf der ganzen Welt aufhorchen lassen. England hatte bis dato noch nie gegen ein sogenanntes Tier-2-Team verloren - also alle Teams außerhalb der Six Nations und Rugby Championship. Wir wollen deshalb zwei Wochen vor WM-Start einen genaueren Blick auf die chancenreichsten Teams aus der vermeintlichen zweiten Reihe werfen, die für Überraschungen sorgen könnten.
Fidschi
Nicht erst seit dem überragenden Sieg gegen England gilt Fidschi als das stärkste Team von den Pazifikinseln. Bisher hat es das Team bereits zwei Mal in ein Viertelfinale einer Rugby-WM geschafft und vieles spricht dafür, dass die Flying Fijians auch dieses Mal ein aussichtsreicher Kandidat für die K.O.-Runde sind. Der Talentpool dieses Rugby-verrückten Landes ist schier unerschöpflich, mit den Fijian Drua im Super Rugby haben auch talentierte Spieler auch im eigenen Land eine Chance auf Profi-Rugby und dazu ist Fidschi auf der vermeintlich leichten Seite der Auslosung.
Die traditionelle Stärke der des Teams ist das offene chaotische Spiel, mit vielen Offloads und einer Art zu spielen, die vom Instinkt geprägt ist. Die im September noch immer schnellen und harten Plätze Südfrankreichs - Fidschi spielt seine Gruppenspiele in Bordeaux, Saint-Étienne und Toulouse - dürften dem Team zu gute kommen. Darüber hinaus hat das Team den Fokus in den letzten Wochen und Monaten auf die Standards gelegt, die bisher die Achillesferse des Teams waren.
Mit Australien, Wales, Georgien und Portugal haben die Fidschianer vier schlagbare Gegner in der Gruppe. Ob das eingespielt genug ist, wird man sehen. Während der Corona-Pandemie haben die Pazifik-Teams besonders unter den Reisebeschränkungen gelitten und hatten kaum Trainingszeit zusammen, geschweige denn genügend Spiele. Der neue Coach Simon Raiwalui hatte sein Team jetzt fast zwei Monate beisammen und der ehemalige Zweite-Reihe-Stürmer dafür gesorgt haben, dass das Team als Einheit in diese WM geht.
Denn bereits das erste Spiel könnte vorentscheidend werden. Am ersten Wochenende der WM spielt Fidschi gegen eine walisische Mannschaft, die zuletzt alles andere als stabil wirkte. Gegen eben jene Waliser hatte Fidschi 2007 die Sensation geschafft und den damaligen Favoriten in einem der besten Spiele der WM-Geschichte mit 38-34 rausgekegelt. Warum sollte dies den Flying Fijians nicht noch einmal gelingen?
Wo es den Fidschianern, die mit Superstars wie Joshua Tuisova, Semi Radradra, Levania Botia und Bill Mata auftrumpfen können, an Erfahrung mangelt, ist auf der Verbinderposition. Der erfahrene Racing-Profi Ben Volavola schaffte es überraschenderweise nicht in den Kader. So wird der erst 23-jährige Drua-Zehner Caleb Muntz die Strippen im Angriffsspiel ziehen. Es wird an ihm liegen, die unfassbar talentierte Dreiviertelreihe mit guten Bällen zu füttern, was ihm beim Sieg über England bereits hervorragend gelungen war.
Der Sieg in Twickenham war ein Fingerzeig für Fidschis Gruppengegner bei der WM - Wales und Australien
Georgien
Seit 2003 war Georgien bei bisher jeder WM dabei und das bisher beste Finish gelang den Lelos 2015, als sie bei der WM in England Gruppendritter wurden und damit die automatische Quali für das Turnier 2019 eintüteten. Das ist das Mindestziel in diesem Jahr, doch insgeheim erhofft man sich bei den Lelos doch mehr. Immerhin geht es unter anderem gegen die Waliser, die man noch im November vorigen Jahres in Cardiff schlagen konnte.
Die Stärken der Georgier waren traditionell immer das Sturmspiel und besonders die Standards und auch bei dieser WM hat das Team aus dem Kaukasus reihenweise Stürmer von französischen und englischen Topklubs im Kader. Doch in den letzten Jahren hat sich das massive Investment der Georgier in die Jugend-Infrastruktur zunehmend bezahlt gemacht. Auch in der Dreiviertelreihe haben die Lelos mittlerweile unfassbar talentierte Spieler.
Innen Giorgi Kveseladze beispielsweise erzielte 2020 gegen Irland einen unfassbar starken Solo-Versuch und ist mittlerweile bei Gloucester unter Vertrag. Schluss Davit Niniashvili ist mit nur 21 Jahren bereits einer der Stars der Top 14 und könnte das Georgien-Spiel in den nächsten 10 Jahren prägen. Zusammen mit der eingespielten Halb-Verbinder-Kombination Lobzhanidze und Abzhandadze kann Georgien durchaus auch über die Dreiviertelreihe gefährlich werden.
Doch mit Portugal wartet in der Gruppe auch ein Team, das den Lelos in letztes Jahr ein Remis abtrotzen konnte und ausgerechnet zum Auftakt wartet mit Australien der wohl stärkste Gruppengegner im Stade de France. Gegen die Schotten hatte Georgen am späten Samstag-Nachmittag über 50 Minuten stark mitgehalten und sogar lange geführt. Doch am Ende mussten die Lelos dem schnellen Tempo der Schotten Tribut zahlen und brachen defensiv ein. Auch Australien pflegt einen sehr schnellen Ball zu spielen, was es für die Lelos nicht einfach machen wird.
Tonga
Kein Land hat dermaßen von der Änderung der Spielberechtigungskriterien durch World Rugby profitiert wie Tonga. Auf dem kleinen Inselreich wohnen weniger Menschen, als dass es in Neuseeland und Australien für Tonga spielberechtigte Einwohner gibt. Diese bewahren meist Tongaische Traditionen und identifizieren sich als Tongan-Australian oder Tongan New Zealander.
Mit Malakai Fekitoa, George Moala (in den ersten drei Gruppenspielen gesperrt), Charles Piutau und Vaea Fifita kommen nun gleich vier einstige All Blacks in den WM-Kader Tongas. Dazu verstärkt der einstige Wallaby Richie Arnold die zweite Sturmreihe Tongas. Was das kleine Inselreich an talentiertem Personal hat, fehlt ihm in Sachen Organisation und Struktur.
Der Verband arbeitet mit bescheidenen Mitteln und in der Vorbereitung hatte Tonga lediglich Testspiele gegen Kanada und Australiens B-Auswahl. Der erste Gegner in Frankreich wird dann ausgerechnet Topfavorit Irland sein. Danach warten mit Schottland und Südafrika ähnliche Kaliber, bevor mit Rumänien ein Team im letzten Gruppenspiel wartet, das für Tonga in jedem Fall schlagbar sein.
Ein Viertelfinaleinzug ist in dieser Hammergruppe sicherlich zu viel verlangt für ein Tonga-Team, das keine optimale Vorbereitung hatte und auf der Spielmacherposition wenig Erfahrung zu bieten hat. Jedoch ist ein Überraschungssieg gegen eines der Top-Teams keineswegs utopisch.
Japan
Den Brave Blossoms war 2015 die bis dahin größte Überraschung der WM-Geschichte gelungen, als sie damals die haushoch favorisierten Springboks in Brighton auf hochdramatische Art und Weise besiegten. Es sollte trotzdem knapp nicht zum Viertelfinale reichen, was die Japaner dann aber 2019 bei der Heim-WM nachholten. Die Gruppe mit Irland und Schottland konnte das Land der aufgehenden Sonne gar gewinnen.
Im Viertelfinale war dann gegen den späteren Weltmeister Südafrika Schluss. Dieses Mal scheint das Team aber leider nicht in WM-Form zu sein. Nach zwei Pleiten gegen die B-Auswahl der All Blacks unterlag Japan zuletzt gestern in Treviso mit 21-42 gegen Italien - war dabei aber bis wenige Minuten vor Schluss in der Partie, kassierte dann aber zwei sehr späte Versuche, nachdem man jegliche taktische Struktur aufgegeben hatte, um die Partie zu drehen. Das Team um Achter Himeno, Neuner Nagare und Kapitän Leitch konnte bisher aber insgesamt nicht das Rugby zeigen, das das Team 2019 zum Fan-Liebling der Neutralen machte.
Zum Teil liegt das auch daran, dass es nach dem WM-Erfolg verpasst wurde, den Japanern regelmäßige Spielpraxis gegen die Top-Teams zu verschaffen - neben den mangelnden Duellen auf internationeler Ebene wurde den Japanern auch das Super-Rugby-Team Sunwolves genommen, das für viele Spieler der Brave Blossoms einer großartige Vorbereitung auf die WM 2019 war. Das rächt sich nun und für die Brave Blossoms dürfte es sehr schwer aus der Gruppe mit Argentinien, England und Samoa erneut ins Viertelfinale zu kommen.
Gegen Italien konnte Japan nur teils überzeugen und kassierte am Ende zwei späte Versuche, duch die das Ergebnis zu hoch ausfiel
Samoa
Auch Samoa war bereits zwei Mal im Viertelfinale einer WM, jedoch ist das bereits rund 30 Jahre her - 1991 und 1995 überstand das Team jeweils die Vorrunde und spielte unter den letzten acht Teams der WM. Samoa könnte im letzten Gruppenspiel am 7. Oktober in Lille gegen eine zuletzt schwache englische Mannschaft für die Sensation sorgen und den dritten Viertelfinaleinzug in der Geschichte der Pazifiknation zu sichern.
Samoa ist für den besonders physischen und konfrontativen Spielstil bekannt und Dank der World-Rugby-Spielberechtigungskriterien hat das Team zu seinem formidablen Kader zwei Weltklasse-Verbinder erhalten: Lima Sopoaga bringt seine Erfahrung aus 16 Einsätzen für die All Blacks und Christian Leali’ifano seine Erfahrung aus 26 Spielen für die Wallabies mit. Dazu verstärkt Ex-All-Black Steve Luatua die dritte Sturmreihe.
Aber auch bei Samoa könnte das Thema Eingespieltheit relevant werden. Das einzige richtige Vorbereitungsspiel spielte Samoa am Samstag-Abend im monsunartigen Regen gegen eine 1-B-Mannschaft Irlands und stellte sich dabei nicht schlecht an. Jedoch sind es wenige Schlussfolgerungen, die man aus der knappen Niederlage bei grausamen Bedingungen ziehen kann. Defensiv ist Samoa dem Druck der Iren gewachsen.
Angesichts der Gruppengegner Chile, Japan, Argentinien und England ist es der Mannschaft von Kapitän Chris vui durchaus zuzutrauen, erneut ins Viertelfinale einzuziehen.
Samoa braucht sich auch vor Irland nicht zu verstecken