HHRV-Vorsitzender Nils Zurawski mit Gedanken zum deutschen Vereinsrugby und Wege raus aus der Krise
Zweite Bundesliga Nord dicht, Sollstärke insgesamt massiv unterschritten, Spielabsagen zum Auftakt der Regionalliga Nord, Lizenzauflagen für die erste Bundesliga, die den Namen nicht verdienen. Das deutsche Vereinsrugby steckt in einer tiefen Krise – sportlich als auch organisatorisch. Mit Auswirkungen auf das internationale Parkett, auf dem die DRV XV nach Sicht vieler in der höchsten europäischen Klasse abliefern soll. Doch wohin geht die Reise des ovalen Sports in Deutschland? Der Versuch einer Erklärung vom Vorsitzenden des Hamburger Rugby-Verbandes, Nils Zurawski.
Was ist passiert: Eigentlich nichts, worüber man sich wundern sollte. Zwei Spiele in der Regionalliga Nord sind abgesagt worden. Zwei Vereine hatten am ersten Spieltag keine Mannschaften, die sie ins Spiel hätten schicken wollten oder konnten. So weit so normal mittlerweile. Aber dennoch wirft das mit Blick auf den ersten Spieltag einige Fragen auf. Ich möchte darauf keine Antwort finden, sondern weitere Fragen stellen.
Wie sieht die Zukunft des Rugbys in Deutschland in der Breite aus; und was benötigen wir für die Zukunft? Die Antwort liegt auf der Hand: Nachwuchs! Welche Rolle könnten dabei vor allem die erste und zweite Bundesliga, weniger die Regional- und Verbandsligen, dabei spielen? Die Bundesliga hat in diesem Zusammenhang einen Vorbildcharakter und ist für viele Vereine immer noch ein sportliches Ziel. Der Deutsche Meister ist unter den Vereinen etwas wert – auch wenn sich sonst niemand in Sportdeutschland dafür groß interessiert.
Nachwuchs ist Teil der Lizenzbestimmungen. Diese sind aber nicht dazu angetan, eine Verbesserung der aktuellen Krise herbeizuführen. Damit können wir zwar bestrafen und so anregen, es besser zu machen. Das ist allerdings weder abschreckend genug, noch hat es in der Vergangenheit Wesentliches gebracht. Die Krise hat eher zugenommen und bei strenger Anwendung der Lizenzbestimmungen würde es zur selbstgemachten Auflösung eines sinnvollen Wettbewerbes führen.
Was sollten wir stattdessen angehen? Gegenwärtig haben wir sieben U18-Mannschaften, die um eine deutsche Meisterschaft – bis auf ein Team sind dies Spielgemeinschaften. Immerhin, denn so können diese Jungs wenigstens noch Rugby spielen. Aber spielen diese Jungs auch nach der U18 in ihren Bundesligamannschaften? Es scheint mir, dass die Verzahnung von Nachwuchs und Bundesligamannschaften so gestaltet werden muss, dass Vereine dringend eigenen Nachwuchs benötigen oder dessen Einsatz belohnt wird. Über das „Wie“ sollten wir uns Gedanken machen.
Spieler einkaufen? Gute Idee für die Klubs – aber nur auf den ersten Blick, wie aktuelle Beispiele und die aus der Vergangenheit zeigen. Hier müssen Begrenzungen stattfinden, denn das bringt das deutsche Rugby sowohl in der Breite als auch in der Spitze nicht nach vorn. Dennoch ist die Bundesliga in ihrer Rolle für das deutsche Rugby wesentlich für die Entwicklung unseres Sports. Hier müssen wir Pläne entwickeln und mit den Vereinen umsetzen, verschiedene Interessen berücksichtigen. Und es muss Belohnung statt Bestrafung im Mittelpunkt stehen!
Überhaupt müssen die Initiativen der Vereine, die sich um Jugend kümmern, belohnt werden, mehr als nur in Stimmrechten und Beitragsrabatten, direkt im Wettbewerb oder in den Ligen. Dass auf RL und VL-Niveau sich das oft nicht umsetzen lässt, ist vollkommen in Ordnung, dort ist auch der Breitensport angesiedelt. Aber auf Bundesliganiveau muss ein Umdenken stattfinden. Hier müssen wir uns zusammensetzen und für die nächsten fünf bis zehn Jahre Pläne machen, die wir dann umsetzen. Gemeinsam mit den Vereinen, denn sonst wird es mehr Spielabsagen geben, Rückzüge aus im Endeffekt schon jetzt viel zu aufgeblähten Bundesligen.
Aktuell kann ich allerdings im deutschen Rugby keinen Aufbruch erkennen. Dazu ein kleiner Exkurs: Ich habe gerade den beiden hauptamtlich Angestellten meiner Abteilung einen Inflationsausgleich zugesprochen, so wie es mein Hauptverein mit all seinen Angestellten hält. Ich wurde gefragt und habe selbstverständlich zugestimmt. Drei Prozent mehr, etwa 1.500 Euro im Jahr extra für beide. Nicht viel, aber Mehrausgaben für mich. Einzelschicksal, könnte man denken, was nervt er damit. Stimmt, stimmt aber auch nicht. Denn bei Gastspielen von zwei Hannoveraner Verein in Hamburg hörte ich immer wieder folgende Sätze oder Satzfetzen: „Wir oder die, warten noch auf sechs Südafrikaner,“ „der Süden kauft sich den oder jenen Fidji oder Südafrikaner“, „die oder jene haben Profispieler“. Spieler, die in Deutschland für Geld Rugby spielen und den Vereinen die Hoffnung auf die Meisterschaft sichern sollen. Dafür kommen bei der derzeitigen Lage lediglich vier bis fünf Vereine bei der aktuellen Gesamtlage in Frage. Vorrangig aus dem Süden. Das wird sich nicht ändern, wenn die Situation so bleibt, wie sie ist. Die Vereine, die Geld ausgeben sind allerdings nicht beschränkt auf den Süden – diese sitzen überall.
Von einem Verein aus Hannover wurde mir sehr offen berichtet, eher als Klage, denn mit Stolz, dass sie 19 Schüler und Jugendliche in allen Altersklassen hätten - 19 über alle hinweg! Es war ein Lamento, wie schlecht die Abteilung aktuell übergeben wurde. Das ist in der Tat beklagenswert, aber für eine Topmannschaft aus einer der beiden Rugbyhochburgen in Deutschland auch ein echter Offenbarungseid. Mein Verein konnte in dem Spiel mehr Einlaufkinder stellen als der entsprechende Verein im Training hat.
Wie passen diese Dinge zusammen?
Ich frage mich, was für Arbeitsverhältnisse in den Deutschen Rugbyvereinen bestehen? Wie sind die Profis angestellt, wer bezahlt sie, von was? Das Modell mit dem dreimonatigen Touristenvisum ist mir bekannt. Dann aber dürfte derjenige hier nicht arbeiten. Wer zahlt Sozialabgaben, wer Krankenversicherung, ist das Mindestlohn? Welcher Schmu wird mit den Minijobs gemacht? Sozialbetrug, Ausbeutung? Klar ist, dass es vor allem Spieler sind, die hierherkommen, weil das wenige immer noch besser ist, als zu Hause, weil ein Gefälle zwischen dort und hier besteht. Wie wohnen die Spieler hier? Ja, es sind junge Leute, die brauchen nicht viel. Dennoch: Wir tragen unsere so speziellen Werte des Rugby oft wie eine Monstranz vor uns her – enden die bei der Behandlung von Sportlern? Und bekommen die auch alle einen Inflationsausgleich und das Energiegeld? Wohl eher nicht! Interessanterweise sind so manche Regelungen immer an den Fahrtkosten in der Bundesliga gescheitert - auch mit Argumenten von den Vereinen, die jetzt so kräftig shoppen gehen und auch damals gingen.
Welchen nachhaltigen Effekt haben diese Strategien für das Rugby in Deutschland? Das Argument ist, da kommen Spieler, die den Nachwuchs trainieren. Welchen Nachwuchs? Außer bei Frankfurt sehe ich keinen nennenswerten Nachwuchs in den für das Herrenrugby wichtigen Klassen U16 und U18. Und auch dort spielen die Dauermeister dieser Klassen der vergangenen Jahre nicht in der ersten Mannschaft. Korrigiert mich, wenn ich irre. Welche positiven Effekte hatten die Gelder von Wild in Heidelberg, welche Effekte haben die Kooperationen in Leipzig und Hannover mit südafrikanischen Akademien? Es geht um den Meistertitel und dieser ist zu einer Angelegenheit von Heidelberg, Frankfurt und jetzt mutmaßlich Offenbach geworden. Einmal Meister werden, es den anderen zeigen. Weltberühmt im eigenen Dorf!?! Das wäre provinziell, wie man provinzieller nicht sein kann. Hannoveraner Vereine haben sich vor knapp 20 Jahren bereits so zerlegt. Weitere werden folgen. Der Rest der Republik müht sich redlich. Zur LVM der U18 würden nicht einmal alle Landesverbände mit einem Team antreten – das ist arm. Und Corona hat damit nur ganz am Rande zu tun, wie auch mit dem Rest der Misere. Also was ist zu tun?
Überraschenderweise erst einmal ganz wenig, nämlich hauptsächlich Fragen stellen und uns ehrlich die Lage vor Augen führen und zu akzeptieren, dass es nicht so richtig gut läuft – außer beim 7er Programm! Meinem Eindruck nach läuft dieses Programm gut bis sehr gut. Und das gegen jede Chance bei dem Hintergrund und den herrschenden Rahmenbedingungen. Damit niemand meint, das sei mir entgangen oder egal: Ich feiere das Team, seine Spieler und die Mühen, die Rugby Deutschland und Manuel Wilhelm in dieses Projekt stecken. Es wird in Deutschland aber keinen Effekt haben, am wenigsten auf die Einstellung der Vereine.
Zurück zu den Fragen. Dieses Mal müssen wir nicht den Verband als Organisation auf den Kopf stellen. Daher müssen wir miteinander reden, dazu brauchen wir gute Fragen: Was wollen wir, die Vereine, die Verbände überhaupt? Was können wir gut? Wie können wir Ziele erreichen, wozu sind Maßnahmen gut? Darauf kann es viele Antworten geben. Wir sind aber immer zu schnell mit Antworten, neue Modelle, ein bisschen Geld hier und alles soll laufen. Das ist Schwachsinn! Wir haben, so wie ich das sehe, folgende Möglichkeiten, hauptsächlich bezogen auf die Bundesliga, aber das bedingt dann irgendwann auch alles andere.
Warum Bundesliga der Männer? Weil sie das Aushängeschild unseres Sports in Deutschland ist. Weil nur von dort die Impulse ausgehen müssen und können. Wenn nicht dort, dann kann es auch bei kleinen Klubs, die unterklassig spielen, keinen Anreiz geben. Diese Vereinen könnte die Bundesliga mittlerweile womöglich sportlich schon lange nicht mehr interessieren. Was ist also zu tun?
a. Wir machen so weiter wie bisher: Flicken hier und dort mal ein wenig an den Lizenzbedingungen herum, schrauben am Ligasystem, mal steigt einer ganz ab oder zieht zurück oder kommt groß raus – am Ende ist es egal. Es wird nicht besser werden. Wenn uns das allen reicht, dann ist das in Ordnung. Das müssen wir uns dann aber auch ehrlicherweise auch sagen – und dann ist es gut. Das ist nicht schlimm, halt nur schade.
b. Wir setzen die Hoffnung wieder auf einen großen Geldgeber oder den Erfolg der 7er-Mannschaft, deren Erfolg dann die Kassen vollmacht – und alle unsere Probleme sind gelöst. Mein Verdacht: Das wird nicht passieren.
c. Wir fangen an, uns Gedanken zu machen, Fragen zu einer anderen Rugbykultur in Deutschland zu stellen. Wie könnten wir Rugby auch entwickeln, was bräuchten wir eventuell, worüber haben wir noch nicht, wahrscheinlich bisher nie, nachgedacht? Und dabei meine ich nicht, eine 7er-Profi-Serie oder ähnliches. Neue Spielformen, andere Ligaregeln (nicht Spielregeln), einen Plan – so etwas benötigen wir!
Andere Sportarten könnten da Beispiele liefern, denn auch dort gibt es durchaus Schwierigkeiten, wenn auch auf hohem Niveau. 3×3-Basketball wäre in diesem Zusammenhang ein Beispiel für eine andere Spielform, die mittlerweile eine olympische Sportart ist. Auch dort ist wohl das geänderte Freizeitverhalten ein Grund, über neue Konzepte nachzudenken. Dass Rugby von geänderten Rahmenbedingungen nicht getroffen werde, ist absurd zu glauben. Nur: Wir reagieren nicht darauf!
Wie solche Neuerungen beim Rugby aussehen können, dass sich zwischen 15er und 7er scheinbar entschieden muss, was z.B. bei den Frauen in Deutschland zu absurden Situationen führt, wäre eine Aufgabe, die man mal besprechen müsste. Aber wie eingangs betont, wollte ich keine Lösungen präsentieren, sondern mit dem deutschen Rugby ins Gespräch kommen. Ein mögliches Thema wäre die Implementierung von semiprofessionellen Strukturen im Denken und in den Vereinen als ein möglicher erster Schritt raus aus der Krise. Kurzfristige Investments oder Kooperationen mit südafrikanischen Akademien sind nicht nachhaltig, wenn davon nichts im Nachwuchsbereich ankommt. Das wäre dann lediglich ein trügerischer Schein von (Semi)Professionalität. Eine Zukunft wäre das nicht.
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