Der Ex-Nationalspieler und studierte Mediziner Colin Grzanna kennt das Thema aus der Theorie und Praxis.
Das Thema Gehirnerschütterungen beziehungsweise Schädel-Hirn-Traumata im Sport im Allgemeinen hat in den letzten Monaten deutlich mehr Gewicht gewonnen – nicht nur im Rugbysport. In diesem Zusammenhang wurde zuletzt Colin Grzanna, Head of Physical Performance im Deutschen Rugby-Verband, ins Rugby Europe Player Welfare Committee berufen. Nun hat der Chef-Mediziner im DRV einen umfangreichen Handlungsleitfaden auf Deutsch verfasst, in dem es um den richtigen Umgang mit derartigen Kopfverletzungen zum Besten der Aktiven geht.
DRV: Colin, das Thema Kopfverletzungen im Rugbysport und der richtige Umgang damit hat in den letzten Monaten gefühlt rasant an Fahrt aufgenommen. Warum erst jetzt? Bekannt ist das doch schon länger.
Colin Grzanna: Das ist natürlich richtig: Das Thema liegt seit Jahren auf dem Tisch, hat jetzt aber mittlerweile eine höhere Priorität bekommen. Erstmals richtig aufs Tapet kam es vor etwa 15 Jahren, als in Amerika in der NFL Fälle von dementiellen Erkrankungen, schweren Depressionen und Wesensveränderungen mit teils katastrophalen Folgen wie Suiziden und sogar Mordfällen auftraten. Allesamt hatten in den Autopsien ähnliche Veränderungen im Gehirn, die als Chronisch traumatische Enzephalopathie betitelt wurden. Forscher vermuteten daher einen Zusammenhang zwischen wiederholten und nicht ausreichend therapierten Hirnverletzungen. Nicht viel später hat sich auch World Rugby im Rahmen der zunehmenden Professionalisierung unseres Sports intensiver des Themas angenommen und es von renommieren Wissenschaftlern in umfangreichen Studien erforschen lassen. Dass es jetzt gerade so präsent in Zusammenhang mit Rugby in den Medien aufgetaucht ist, liegt daran, dass etwa in England einige Spieler Vorwürfe erhoben haben, Kopfverletzungen seien in ihrer aktiven Zeit nicht adäquat erkannt und sich nicht ausreichend darum gekümmert worden
DRV: Ist das denn berechtigt?
Grzanna: Grundsätzlich hat sich in meinen Augen die Menge der Verletzungen im Vergleich zur Zeit vor der intensiveren Forschung nicht verändert. Allerdings gibt es heute sehr wohl eine andere Umgangsweise damit als früher. Heute wird weit weniger toleriert, wenn ein Spieler Symptome einer Kopfverletzung aufweist, solche Symptome werden besser erkannt und gedeutet, und nicht zuletzt verfolgt World Rugby mittlerweile eine Zero-Tolerance-Politik, was Kopfverletzungen angeht. Damit steigt natürlich zunächst mal die Zahl der Gehirnerschütterungen, bildet aber wohl ein korrekteres Bild der Inzidenz ab. Auch bei der kürzlich stattgefundenen Player-Welfare-Konferenz von World Rugby wurde das Thema intensiv bearbeitet. Auch das war ein Grund, warum ich diesen Handlungsleitfaden, an dem ich schon länger gearbeitet habe, jetzt überarbeitet und an World-Rugby-Empfehlungen angepasst habe.
Wir bei TR hatten uns im Rahmen des DRV-Rugbyforums mit Colin Grzanna zum Thema unterhalten
DRV: Was sind Kernpunkte dieses Leitfadens?
Grzanna: Grundsätzlich geht es darum, wie man das Vorgehen im Umgang mit Gehirnerschütterungen standardisieren und erleichtern kann. Da steht vor allem das „Erkennen und Entfernen“-Protokoll (Recognize and Remove) im Vordergrund. Sobald ein Verdacht auf eine Kopfverletzung auftritt, muss der Spieler oder die Spielerin aus dem Spiel genommen werden. Dann hat man sich an ein detailliertes „Return to play“-Protokoll zu halten. Der Leitfaden beinhaltet auch Empfehlungen für Kinder und Jugendliche und weist auf vorhandene Präventionskonzepte, wie etwa World Rugby Activate, hin. Vor allem soll es eine klare Sensibilisierung auf allen Ebenen dafür geben, dass Kopfverletzungen nicht leicht abgetan sondern ernst genommen werden, dass man dem Kopf die nötige Zeit gibt, sich vollständig zu erholen. Dazu gehört aus meiner Sicht auch, dass handelnde Personen im richtigen Umgang mit Kopfverletzungen geschult werden – auch, um mögliche Ängste davor zu nehmen. Immerhin heilen mehr als 90 Prozent aller Gehirnerschütterungen innerhalb von sieben bis zehn Tagen vollständig aus, wenn man sie richtig und rechtzeitig erkennt und sich adäquat darum kümmert. Das bedeutet aber auch, dass eine Rückkehr in den aktiven Trainings- und Spielbetrieb erst nach einer vollständigen Gesundung erfolgt und bestenfalls nach Freigabe einer entsprechend ausgebildeten Person vom Fach.
DRV: Ist dieser Handlungsleitfaden unter Umständen auch auf andere Kollisionssportarten wie American Football oder auch Fußball anwendbar
Grzanna: Der DFB, die FIFA und die NFL befassen sich derzeit intensiv mit diesem Thema. So wurden jüngst Kopfbälle in England für alle U11-Alterklassen verboten. Auch die großen Rugbynationen wie England oder Neuseeland haben entsprechende Konzepte, etwa, wie man Kopfverletzungen im Jugendbereich möglichst vermeiden kann. Dieser Leitfaden ist jetzt erst mal für den Rugbysport in Deutschland auf dem aktuellsten Stand, soll aber kontinuierlich nach den neuesten Entwicklungen und Forschungsergebnissen angepasst werden. Ziel muss es sein, und da hoffe ich drauf, dass es künftig – auch datenschutzrechtlich – möglich ist, dass diese Verletzungen zentral gemeldet werden können, damit wir in Rugby Deutschland einen besseren Überblick über Verletzungsstatistiken bekommen, aber das auch die Schiedsrichter etwaige Kopfverletzungen auf dem Spielberichtsbogen vermerken, um deutlich zu machen, dass das Problem erkannt wurde und Spieler erst dann wieder in den Spielbetrieb offiziell eingreifen können, wenn der Prozess des Return to plays vollständig in korrekter Länge durchlaufen wurde. In anderen Ländern wird das bereits so praktiziert. Wir in Deutschland werden in diesem Bereich auch verstärkt den Fokus aus Ausbildung, Sensibilisierung und Schulung legen. Das Thema Player Welfare wird weiter forciert werden, um uns für eine womöglich professionalisierte Zukunft bestmöglich aufzustellen und vorbereitet zu sein.
Zum Download des Handlungsleitfadens
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