Vor le Crunch: Englands Misere, Frankreichs Chance
Geschrieben von TotalRugby Team
Mittwoch, 10. März 2021
Letztes Jahr schlug die junge wilde Frankreich-Truppe - ein weiterer Sieg käme einer Wachablösung gleich.
Am Samstag Abend (17:45 live bei DAZN) treffen Frankreich und England im Londoner Twickenham-Stadion zum 108. Mal aufeinander. Le Crunch ist ein Prestige-Duell der beiden größten Europäischen Rugby-Mächte und in diesem Jahr könnte es auch Art Wachablösung sein. Während England mit zahlreichen Problemen auf und neben dem Feld zu kämpfen hat, blickt man in Frankreich positiver denn je auf die Zukunft des eigenen Rugby-Teams und des Sports im Land insgesamt.
Im Mutterland des ovalen Ballsports hatte man seine große Chance im Jahr 2015. Die Heim-WM vor den Augen, eine junge aufstrebenden Truppe unter Coach Stuart Lancaster, die sich im Vorfeld des World Cups Duelle mit Weltmeister Neuseeland auf Augenhöhe lieferte. Dazu ein hochgelobter Nachwuchs mit zwei U20-WM-Titeln, die just vor dem Start des Turniers eingefahren wurden. Die Euphorie in England kannte keine Grenzen und auch kommerziell stand der RFU ein warmer Geldsegen bevor.
Doch zuerst geriet die WM daheim sportlich zum Disaster, als dem Gastgeber eine Premiere gelang, indem er als erstes Heim-Team eines Rugby World Cups schon nach der Gruppenphase die Segel streichen musste. Dann überhob sich Englands Verband im Anschluss beim Ausbau einer einzigen Tribüne des Twickenham-Stadions, die in der Endabrechnung knapp 100 Millionen Euro kosten würde.
Die Demütigung: Wales kegelt England bei der Heim-WM 2015 raus
Die umgebaute Osttribüne des Rugby-Tempels sollte die immensen Kosten mit mehr sündhaft teuren Logenplätzen schnell wieder reinspielen, doch nach der Eröffnung Anfang 2019 waren es nur eine Handvoll Spiele, die im Nationalstadion ausgetragen wurden, bis Corona Sport vor Zuschauern unmöglich machte. Damit blieb auch die zahlungskräftige Kundschaft aus der Londoner City aus, die wohl auch künftig mit den Auswirkungen der Pandemie und des Brexits nicht dermaßen viel für Eintrittskarten ausgeben dürfte, wie vorher antizipiert.
Die Folge: Der Verband England Rugby musste ein massives Sparprogramm auflegen, mehr als jeder vierte Job beim Verband wurde gestrichen. Über 100 Development Officers, die sich in den einzelnen Landesteilen um den Nachwuchs kümmern sollen, wurden entlassen. Das dürfte sich mittelfristig auch auf den Talent-Pool auswirken, was wiederum in der Spitze in der Premiership und beim Nationalteam negative Folgen haben wird.
Seit der WM 2019 nun auch sportlich ein langsamer Abstieg
Aber auch beim Aushängeschild des Verbands, dem englischen Fünfzehner-Nationalteam, läuft es momentan nicht wirklich rund. Hätte man die erste Niederlage daheim gegen Schottland seit 1983 noch als Ausrutscher bewerten können, zeigt die Pleite gegen Wales mit 40 kassierten Punkten, mehr als England jemals gegen Wales in 140 Jahren einstecken musste, dass die Mannschaft von Eddie Jones eine sportliche Talsohle durchquert.
Jones hat mit Erreichen des WM-Finales 2019 noch viel Kredit bei den Verantwortlichen, die seinen Vertrag bis zum nächsten World Cup 2023 verlängert hatten. Doch der Unmut in Englands Rugby-Community wächst. Hatte man sich im Herbst noch mit dem langweiligen äußerst kicklastigen Spielstil abgefunden, war man doch damit wenigstens erfolgreich, werden die kritischen Stimmen nun immer lauter.
Der Australier auf dem Trainerstuhl besteht auf seinem Spielstil und mehr noch auf seinem Stamm-Personal. Sam Simmonds, der in der Premiership gerade alle Rekorde für erzielte Versuche bricht, schafft es nicht Mal in den erweiterten Kader. Stattdessen nominiert Jones mit George Martin einen Youngster für die dritte Sturmreihe, der noch keine zehn Einsätze in der Premiership auf dem Konto hat.
Andere Premiership-Stars, wie die Harlequins-Achter Alex Dombrandt und sein Verbinder Marcus Smith schaffen es ebensowenig in die Nähe des Teams. Jones hatte den heute 22-jährigen Spielmacher Smith noch in Teenager-Jahren für den Kader nominiert, als er bei weitem noch nicht bei seiner heutigen Leistungsstärke angelangt war. Jetzt, wo Smith momentan der wohl formstärkste Zehner Englands ist, bleibt der Anruf von Eddie aus.
Vereins-Rugby droht abgehängt zu werden
Derweil spielen die Saracens-Spieler weiter im England-Team, obwohl man ihnen die mangelnde Premiership-Spielpraxis anmerkt. Speziell Billy Vunipola schleppt obendrein noch einige Zusatz-Kilos mit sich rum und bewertete seine eigenen Leistungen zuletzt selbstkritisch als „Müll“.
Ihr Verein ist derweil in der harten Realität in Englands zweiter Liga angekommen: Auswärts bei den Cornish Pirates im äußersten Südwesten Englands verloren Saracens trotz zusammengerechnet 165 Länderspielen Erfahrung und dem Weltmeister Vincent Koch auf dem Rasen mit 17-25 gegen eine semiprofessionelle Mannschaft.
Englands Vorzeigeklub unterliegt bei einer semiprofessionellen Truppe aus Liga 2
Angesichts der Tatsache, dass Englands Erstligaklubs zuletzt die Liga zur künftig geschlossenen Gesellschaft erklärt haben (TR berichtete), könnte es zum Problem werden, wenn nicht die Saracens am Ende der verkürzten Zweitliga-Saison als Aufsteiger feststehen. Denn den superreichen Londoner Klub will man nach dem verbüßen der Strafe für Finanzdoping wieder unter sich haben. Der Plan der geschlossenen Premiership könnte scheitern.
Derweil droht die gesamte englische Liga finanziell abgehängt zu werden. Im Dezember verkündete der Ligaverband, dass man daheim auch künftig weiter im TV bei BT Sport zu sehen sein werde, dem Sportangebot der britischen Telekom. Allerdings zu schlechteren Konditionen für nunmehr nur noch 36,6 Millionen Pfund im Jahr. Vormals waren es 40 Millionen und nun muss man die TV-Gelder noch mit dem Finanzunternehmen CVC teilen, das sich einen Teil der kommerziellen Rechte der Premiership erworben hatte.
Die Engländer können momentan nur neidisch über den Ärmelkanal schauen
Ganz anders die Lage in Frankreich - waren die TV-Rechte der Top 14 schon vor der letzten Vergabe-Runde weitaus mehr wert, als in England, ist die Lücke nun noch größer geworden. Am 3. März konnte der Ligaverband eine Einigung mit Canal Plus verkünden: 113,6 Millionen Euro kassieren Frankreichs 14 beste Klubs künftig Jahr für Jahr und damit mehr als das dreifache wie die englische Konkurrenz, nachdem auch die neue Rechtevergabe ihnen trotz Pandemie ein dickes Plus bescherte.
Auch die Ligen 2 und 3 sind in Frankreich komplett professionell, während in England die zweite Liga nach Kürzungen mit den Saracens nur noch ein echtes Profi-Team hat. Mit den in den letzten Jahren verschärften GIF-Regeln, nach denen eine Mindestzahl von französischen Spielern oder in Frankreich ausgebildeten Spieler im Kader stehen muss, steht dem Nationaltrainer ein riesiger professioneller Talentpool zur Verfügung. 44 komplett professionelle Teams im Vergleich zu Englands 13 - die Konsequenzen sah man am ersten Advents-Wochenende, als Frankreichs C-Team den Vizeweltmeister am Rande einer Pleite hatte.
Dazu können die Top-Klubs Frankreichs künftig mit noch mehr TV-Geldern wuchern. Die Plätze in den Kadern für nicht-Franzosen dürften damit noch mehr mit Sprinboks, All Blacks und wie im Falle von Zac Mercer, der kommende Saison aus Bath nach Montpelier wechselt, auch England-Nationalspielern besetzt werden. Das wird das Niveau der Top 14 weiter steigern, ohne dass Nationalcoach Fabien Galthié befürchten muss, dass seine Recken keine Spielzeit erhalten.
Der sportliche Höhenflug von les Bleus seit der WM ist ebenso unbestritten. Wie England 2013 und 2014, hat auch Frankreichs Nachwuchs zwei WM-Titel im U-20-Bereich eingeholt. Wie in England ist auch bei den Bleus die Euphorie riesig, angesichts der in zwei Jahren anstehenden WM, die noch mehr Mittel in die Hände französischer Rugby-Würdenträger spülen wird.
Ob die Franzosen es besser machen werden, als der Nachbar, wird man absehen müssen. Solange man verantwortungsbewusster mit den Chancen umgeht, als Frankreichs Coach Galthié mit den Corona-Regeln, haben die Franzosen eine rosige Zukunft vor sich. Die WM 2023 könnte Antoine Dupont, Romain Ntamack und Charles Ollivon im ganzen Land zu Helden machen und den ovalen Boom weiter befeuern.