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„Bei Frauen besteht eine größere Gehirnerschütterungsgefahr“
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Geschrieben von TotalRugby Team   
Donnerstag, 28. Januar 2021

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Gehirnerschütterungen im Frauen-Rugby sind bisher kaum untersucht.

Gehirnerschütterungen sind im Rugby seit Jahren ein wichtiges Thema. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse deuten stark darauf hin, dass Frauen bei diesem Thema noch stärker betroffen sein könnten, als Männer. Gleichzeitig steigt aber auch das Bewusstsein für die Problematik, was langfristig ein wichtiger Schlüssel zur Minimierung der Folgen sein könnte. Das hat auch unser Gespräch mit Premiership-Profispielerin Nora Baltruweit unterstrichen.

Das Bewusstsein für die von Gehirnerschütterungen ausgehenden Gefahr ist im Rugby in den letzten Jahren erst so richtig entstanden. Wichtige Änderungen an der Vorgehensweise bei Verdacht auf Gehirnerschütterung wurden 2015 mit den Concussion Protocolls von World Rugby implementiert - darunter das mittlerweile im Profi-Rugby übliche Head Injury Assessment, oft flapsig auch Ding-Dong-Test genannt. In Deutschland setzt sich Colin Grzanna, Ex-Nationalspieler und Arzt, seit Jahren dafür ein das Bewusstsein für dieses Thema zu schaffen.

Dass dieses Thema die Rugby-Welt durchaus noch länger beschäftigen würde, hat der Fall Steve Thompson gezeigt. Der England-Weltmeister von 2003 hatte vor Weihnachten für Aufsehen gesorgt, als er mit einer Gruppe weiterer Ex-Profis eine Klage gegen den englischen Verband, sowie World Rugby ankündigte. Die Gefahren von Gehirnerschütterungen seien speziell zu Beginn der Profi-Ära heruntergespielt worden - er persönliche könne sich nur noch schemenhaft an den Titelgewinn in Sydney 2003 erinnern und zeige bereits mit Anfang 40 Zeichen von Demenz (TR berichtete).

Seit dem Jahreswechsel ist die Debatte um Kopfverletzungen im Rugby um einen wichtigen Aspekt ergänzt worden. Dr. Elisabeth Williams von der Universität Swansea in Wales, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema. Die Universitäts-Dozentin im Bereich forensische Biomechanik hatte unter anderem die beiden Universitäts-Teams der Herren und Frauen in der südwalisischen Stadt mit Sensoren ausgestattet, die Aufprallhärten messen. Dabei hatte sie signifikante Unterschiede bei den Geschlechtern festgestellt: Während die Aufprallhärten beim Tackling im Damen-Bereich niedriger waren, seien dennoch im gesamten Spielverlauf weitaus stärkere Schleudertraumen festgestellt worden.

Selbst auf allerhöchstem Niveau wie bei den neuseeländischen Black Ferns sei dies ein Problem, so Dr. Williams

Durch die bei Frauen deutlich weniger stark ausgeprägte Nackenmuskulatur wirkten besonders beim Aufprall auf den Boden höhere Kräfte, als im Vergleich mit den Männern. Oftmals hätten weibliche Spielerinnen den Aufprall auf den Boden kaum kontrollieren können. Das ließe sich, so Williams gegenüber Rugbypass, selbst auf dem höchsten internationalen Niveau beobachten. Während der Unterschied zwischen Frauen und Männern in der Ausprägung der Beinmuskulatur beträchtlich aber nicht allzu groß wäre, sei der Unterschied beim Oberkörper und speziell im Nackenbereich um ein Vielfaches höher.

Ihre Schlussfolgerung könne deshalb nur lauten: „Bei Frauen besteht eine größere Gehirnerschütterungsgefahr.“ Dies habe sie selbst schockiert, so Williams gegenüber Rugbypass letzten Dezember. Bereits während den laufenden Untersuchungen hatte Williams gegenüber der BBC von vor knapp einem Jahr davon berichtet, dass im Frauen-Rugby ein höheres Risiko für Kopfverletzungen herrscht. Die gesamten Studienergebnisse wurden schließlich im Dezember 2020 veröffentlicht und haben seitdem eine Debatte ausgelöst.

Mehr Tests und besseres Nackentraining um das Risiko zu minimieren

Die Frauenmannschaft der Bristol Bears nutzt deshalb seit wenigen Monaten als erstes Frauen-Team Zahnschutzmodelle mit eingebautem Sensor, die die Aufprallhärten messen können. Bei einem Stückpreis von über 1000 € dürfte dies sicherlich nur eine Option für Profiteams sein. Ex-England-Nationalspielerin Maggie Alfonsi, die heute als TV-Kommentatorin und Kolumnistin arbeitet, betonte ihrerseits, dass mehr Vorsicht geboten sei, gleichwohl die Vorteile die Gefahren bei weitem übertreffen.

In der englischen Frauen-Nationalmannschaft wird bereits seit fünf Jahren verstärkt der Nackenbereich trainiert. Selbiges gilt mittlerweile für zahlreiche Premiership-Teams, wie Dr. Williams der BBC erklärte. Das kann auch die deutsche Nationalspielerin Nora Baltruweit bestätigen, mit der wir uns im Rahmen unseres Interviews (Link dazu) ebenso über dieses Thema unterhalten haben.

Auch beim Frauen-Rugby wird knallhart getacklet, der Aufprall auf den Boden stellt aber die größere Gefahr da

Das Bewusstsein für die Gefahr weiter steigern

„Ich hatte davon gehört, dass Frauen eventuell für Gehirnerschütterungen anfälliger sind, aber dermaßen präsent war das Thema bei mir noch nicht“, so die in Diensten der Wasps stehende Aachenerin. Dabei hat auch Baltruweit, die nunmehr in ihrer dritten Saison in der englischen Premiership spielt, die zunehmende Relevanz des Themas mitbekommen. Zu Anfang einer jeden Saison steht bei den Spielerinnen jeweils ein Kognitionstest an, der bei eventuellen Gehirnerschütterungen nachher als Basis herangezogen wird.

Dieser Test sei mittlerweile spezifisch auf die Bedürfnisse von Frauen ausgerichtet. Dennoch glaubt Baltruweit, dass im Frauen-Rugby auch in der Premiership eher Mal eine Gehirnerschütterung übersehen wird. Auch schlicht deshalb, da bei den Herren mehr Augen und Kameras auf das Spielgeschehen gerichtet sind. Bei den Frauen könne so selbst auf allerhöchstem Niveau Mal eine Gehirnerschütterung übersehen werden.

Die Ernsthaftigkeit ist mittlerweile allen bewusst

„Die Ernsthaftigkeit dieses Themas hat uns jetzt erst eingeholt“ - Baltruweit selbst kann sich an zwei Gehirnerschütterungen in ihrer Karriere erinnern - eine im Jugendbereich und eine im Training für ihren jetzigen Klub Wasps. Im letzteren Fall sei es eine leichte Gehirnerschütterung ohne Symptome gewesen, jedoch habe sie den Kognitionstest nicht bestanden, woraufhin sie direkt aus dem Training gezogen worden sei.

Mit dem Wissen über die Gefahren würden nicht nur Coaches und Betreuer genauer auf Symptome für Gehirnerschütterungen achten, sondern auch die Spielerinnen untereinander, weswegen das Bewusstsein für solche Verletzungen essenziell sei. Mit mehr frauenspezifischen Studien werde man schlussendlich auch genauere Aussagen machen können, davon ist die Zweite-Reihe-Stürmerin überzeugt.

Generell steckt die Sportwissenschaft speziell mit Blick auf die weibliche Anatomie noch in den Kinderschuhen. Frauen-Rugby hat, wie der professionelle Frauen-Sport insgesamt, in den letzten Jahren einen echten Boom erlebt. Inwiefern hier besondere Voraussetzungen und Risiken bestehen, kann bisher nur unzureichend festgestellt werden.

Wie die deutsche Fachzeitschrift für Sportmedizin berichtet, ist beispielsweise die Anfälligkeit von weiblichen Athleten für Kreuzbandrisse drei bis sechs Mal so hoch. Das dürfte unter anderem auch daran liegen, dass die Festigkeit der Bänder vom Östrogen-Niveau abhängt und deshalb im Menstruationszyklus variiert. Auch hier wird es in den nächsten Jahren mit mehr frauenspezifischen Studien relevantere Ergebnisse geben.

 

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