„Wir werden behandelt wie ein Rohstoff“ - das Schicksal der Rugbyspieler aus dem Pazifik-Staaten
Geschrieben von TotalRugby Team
Mittwoch, 2. Dezember 2020
Das Nationalteam Samoas, 2018 zu Gast in Heidelberg, leidet unter Korruption und Vetternwirtschaft. Foto (c) Seufert-Chang
Einige der besten Rugbyspieler der Welt kommen von den Pazifik-Inseln, darunter Weltstars wie Semi Radradra, die mit dem ovalen Ballsport Millionen verdienen. Doch wie im Welt-Rugby mit den Pazifik-Inseln und deren Spielern umgegangen wird, war zuletzt immer wieder Thema von kontroversen Diskussionen. Eine Dokumentation von Ex-Samoa-Star Dan Leo zeigt zahlreiche Missstände auf, aber es gibt auch hoffnungsvolle Projekte, wie das Moana Pacifika Team, das ab 2022 die Pazifik-Inseln im Super Rugby vertreten soll.
Was haben England-Nationalspieler Manu Tuilagi, Frankreich-Star Virimi Vakatawa, All-Blacks-Prop Ofa Tu’ungafasi, Japans Lomano Lemeki und Wallabies-Prop Taniela Tupou gemein? Sie sind Teil einer ganzen Armada von Rugby-Profis mit Wurzeln im Pazifik-Raum, die aber für andere Nationalmannschaften auflaufen. Bei der letzten WM waren es 42 Spieler aus oder mit Wurzeln in Samoa, Tonga oder Fidschi - dabei haben diese drei Länder zusammengerechnet weniger Einwohner, als die Stadt München.
Dass die Pazifik-Inseln absolute Rugby-Hochburgen sind, ist so ziemlich jedem Rugby-Fan bewusst. Welch großartigen Beitrag die drei kleinen Inselstaaten aber zur Entwicklung des Welt-Rugby beigetragen haben, kann kaum überschätzt werden. Nirgends auf der Welt ist Rugby beliebter und nirgends werden mehr Profis produziert, als in Fidschi, Samoa und Tonga. Die All Blacks haben wohl mehr als jedes andere Team von den Pazifik-Spielern profitiert, während die Nationalteams der Staaten selbst immer mehr an Relevanz verlieren.
Die Professionalisierung als Fluch und Segen zugleich
Die Professionalisierung des Rugbysports hat Spielern von diesen Staaten Möglichkeiten beschert, die sie zuvor nicht hatten. Gleichwohl leiden die Nationalteams - während beispielsweise Tongas Nationalverband nicht Mal ein eigenes Gym oder einen Trainingsplatz hat, betreiben mehrere europäische Top-Klubs perfekt ausgerüstete Akademien auf den Pazifik-Inseln. Clermont aus der französischen Top 14 betreibt seine Akademie in Fidschi seit mittlerweile fast zehn Jahren.
Eine Konsequenz: Sonntag wird Clermont-Außen Alivereti Raka, der über die Akademie zum französischen Top-Klub kam, für Frankreich gegen England auflaufen, nicht etwa für sein Heimatland Fidschi, das am Tag zuvor ebenso spielt. Immer mehr Spieler werden den drei Inselländern schon im jungen Alter abgeworben, wie auch in Leos Dokumentation Oceans Apart (Auf Dailymotion für 3,99€ im Pay per View zu sehen) klar wird.
Oceans Apart macht die Missstände im Welt-Rugby zu Lasten der Pazifik-Staaten sehr deutlich
Dort berichtet ein Offizieller des tongaischen Verbandes das vor kurzem ein 13-jähriger nach Neuseeland gelockt wurde, was einen neuen traurigen Tiefpunkt darstellt. Tonga hat nur etwas mehr als 100.000 Einwohner, rund 12.000 registrierte Rugbyspieler und „exportiert“ dennoch im Jahr knapp 50 Rugby-Teenager. Talentierte jugendliche Rugbyspieler sind zum wertvollen Rohstoff geworden, mit denen gehandelt wird.
Diese talentierten Teenager fehlen dann höchstwahrscheinlich einmal später dem Nationalteam Tongas, das dennoch bei der letztjährigen WM Frankreich am Rande einer Niederlage hat. Gegen die Grande Nation, die allein fünf Mal so viele Rugbyspieler hat, wie Tonga Einwohner, unterlag das Team nur mit 21:23. Die beiden Versuche der Franzosen wurde damals gelegt von Virimi Vakatawa und Alivereti Raka, zwei Fidschianern, die erst im späten Teenager-Alter nach Frankreich gingen.
Tonga vs Frankreich bei der WM - Duell auf Augenhöhe trotz der unterschiedlichen Machtverhältnisse
Dass es die kleinen Nationen derart schwer haben, liegt aber nicht nur daran, dass ihnen die Talente schon im Jugendalter genommen werden. Die relativ armen Pazifik-Inseln können kaum Geld mit lokalen Sponsoren verdienen und während Samoa, Fidschi und Tonga gerngesehene Gäste in den großen Stadien Europas, in Down Under und Japan sind, ist dies andersherum nicht der Fall.
Die Samoaner beispielsweise sind in den letzten zehn Jahren drei Mal im Twickenham Stadion von London angetreten, jeweils vor vollem Haus. Jedes Mal verdient der englische Verband Millionen damit, ohne dass dabei auch nur ein Cent an das Gastteam ausgezahlt wird. England ist derweil noch nie auf den Pazifikinseln angetreten. Der reichste Verband der Welt heißt die Teams gerne willkommen, gibt diesen aber im Gegenzug rein gar nichts.
Gleiches gilt für die Spieler: 2017 hatte Mako Vunipola, selbst England-Nationalspieler mit tongaischen Wurzeln, vorgeschlagen, dass seine Mitspieler 1000 Pfund von ihrer 22.000 Pfund betragenden Auflaufprämie an die Samoaner spenden, da diese nur 450 Pfund erhielten. Das wurde im Team mehrheitlich abgelehnt. Aus ethischen Gründen, wie Prop Dan Coles erklärte. Das würde anderswo Begehrlichkeiten wecken, so der Leicester-Tigers-Profi, der bereits von seinem Verein geschätzte 500.000 Pfund im Jahr verdient.
Neuseeland lässt sich das Gastspiel auf Samoa fürstlich bezahlen
Die All Blacks sorgten 2015 für ein Novum, da sie zu einem Gastspiel in Samoa angetreten waren - es war das allererste Mal, dass eine All-Blacks-Mannschaft auf den Pazifik-Inseln spielte. Jedoch ließ sich der dreimalige Weltmeister das damalige Duell mit einer Antrittsprämie vergolden und ließ den samoanischen Verband auch für Flüge und Unterkünfte aufkommen. Die Folge war ein siebenstelliger Verlust für den Gastgeber, der mit einem jährlichen Budget von um die 5 Millionen US-Dollar auskommen muss.
Doch die schwierige Situation der Pazifik-Verbände beruht auch auf Korruption und Vetternwirtschaft vor Ort. Dan Leo selbst, der Mann hinter dem Film, musste das selbst 2014 schmerzlich am eigenen Leib erfahren. Der Verband und sein Präsident, der gleichzeitig Staatsoberhaupt des Landes ist, hatten bei einer Spendenaktion zur WM-Vorbereitung von der nicht sonderlich wohlhabenden Bevölkerung Samoas Millionen eingesammelt. Doch ein Großteil des Geldes, sowie Fördergelder von World Rugby verschwanden spurlos.
Das Nationalteam musste zum Teil ohne einheitliche Trikots und mit selbst mitgebrachten Bällen trainieren. Leo und eine Reihe Führungsspieler verlangten Antworten und drohten vor ihrem Gastspiel in Twickenham gegen England mit einem Streik. In letzter Minute ließen sie sich von World Rugby und dem samoanischen Verband überzeugen zu spielen. Der Verbleib des Geldes sollte nach dem Spiel geklärt werden - das geschah nie, aber die „Meuterer“ wurden für immer aus der Mannschaft verbannt, darunter auch Leo.
Viele Spieler entscheiden sich bewusst gegen ihre Heimat
Auch deshalb entscheiden sich Spieler gegen die Nationalteams ihrer Heimatländer, wie Manu Tuilagi erklärt. Der Innendreiviertel hatte sich, anders als seine Brüder, für England und nicht sein Geburtsland Samoa entschieden. In Oceans Apart erklärt er, dass ihm so eine Reihe von Unannehmlichkeiten erspart blieben, die seine Brüder mitmachen mussten. All Black Lima Sopoaga betont, dass es mittlerweile fast schon Druck aus den Familien gäbe für andere Teams zu spielen, um so viel Geld wie möglich nach Hause schicken zu können.
Was nach Ansicht des Doku-Machers Dan Leo den Pazifik-Teams helfen würde, wäre eine Regeländerung dem Rugby League folgend. Dort können Spieler von den Nationalteams der großen Länder wie Australien, Neuseeland oder England für ihre Heimatländer auflaufen, auch wenn sie bereits Einsätze bei den großen Drei hatten. Das hat dazu geführt, dass Tonga eine wahrhafte Renaissance erlebte und alle drei großen Teams zuletzt schlagen konnte - angeführt von Jason Taumalolo, der zuvor drei Jahre für Neuseeland aufgelaufen war.
Tongas Nationalteam im Rugby League hat durch die Regeländerung einen wahrhaften Boom erlebt
Im Union gilt bisher: Wenn man einmal für eine Nationalmannschaft aufgelaufen ist, bleibt man sein Leben lang an diese gebunden. Als Beispiel wird in Oceans Apart Charles Piutau angeführt, der wegen seines einen Länderspiels für die All Blacks nicht mehr für Tonga auflaufen darf. Dem Nationalteam, das sein Bruder zuletzt als Kapitän aufs Feld führte. Eine Regelung, die es Spielern erlauben würde, von Tier 1 zu Tier 2 Nationalteams zu wechseln, würde da Abhilfe schaffen. Auch Deutschland könnte davon profitieren.
So könnte zum Beispiel Ex-England-Spielmacher und Newcastle-Profi Toby Flood für die schwarzen Adler auflaufen - Flood, der eine in Deutschland geborene Mutter hat, erklärte in einem Zeitungs-Interview, dass er selbst daran Interesse hätte. Auch Worcester-Warriors-Profi Matt Kvesic wäre für Deutschland spielberechtigt, da er in Iserlohn geboren wurde.
Vor allem aber hofft Dan Leo darauf, dass Spieler von den Pazifik-Inseln künftig Chancen erhalten, auch wenn sie in der Heimat verbleiben. Ein vielversprechendes Projekt in diese Richtung steht gerade in den Startlöchern. Das neue Team Moana Pasifika, bei dem eine Reihe ehemaliger Funktionäre, Geschäftsleute und Ex-Profis an Bord sind, läuft an diesem Wochenende im neuseeländischen Hamilton gegen die Maori All Blacks auf. Was zunächst einmal mehr eine Art Barbarians-Match mit Spielern von verschiedenen anderen Profi-Teams und trainiert von Tana Umaga ist, soll bald zu einer festen Größe werden.
2022 soll das Team Teil von Super Rugby werden und seine Spiel- und Trainingszeit zwischen Auckland und den Pazifik-Inseln aufteilen. Ob dies schlussendlich mehr dem neuseeländischen Rugby, als den Pazifik-Inseln hilft, wird man sehen. Dass sich an der Situation des Pazifik-Rugbys etwas ändern muss, ist aber klar.
Die gesamte Dokumentation Oceans Apart, die einen genaueren Blick auf die Situation der Spieler und Verbände des Pazifik-Raums wirft, gibt es bei Dailymotion für 3,99€ im Pay per View zu sehen. Dan Leo spricht mit zahlreichen aktuellen und Ex-Profis, sowohl in England, als auch auf den Inseln. Dazu interviewt er den World-Rugby-Geschäftsführer und Samoas Premierminister. Prädikat sehenswert!