TR-Review: Neuseeland und Australien liefern sich Duell für die Ewigkeit
Geschrieben von TotalRugby Team
Sonntag, 11. Oktober 2020
Fast 90 Minuten knüppelhartes Rugby in einem Spiel für die Ewigkeit - am Ende gab es dennoch keinen Sieger.
Was für ein Spiel! Es waren 80 Minuten, in denen man nicht einmal das Gefühl hatte, dass beide Teams seit fast einem Jahr kein Spiel mehr absolviert hatten, im Gegenteil: Brutale Hits, tolle Spielzüge und ein atemberaubendes Tempo, trotz widriger Bedingungen. Was dann aber in der knapp zehnminütigen Nachspielzeit geschah, wird dieses Duell in die ovale Geschichte eingehen lassen. Drama und mehr Wendungen als jeder Hollywood-Thriller, dazu eine australische Mannschaft, die sich um einen historischen Sieg betrogen fühlt. Unter dem Strich gab es keinen Sieger beim 16:16 Unentschieden in Neuseelands Haupstadt Wellington.
Neuseelands zweiter Versuch durch Aaron Smith
„Was haben wir hier gerade gesehen?“ war Justin Marshalls erste Reaktion nach dem Abpfiff am Mikrofon für Sky Neuseeland - so ein Spiel hatte der ehemalige All-Blacks-Neuner selbst in seinen 353 Spielen als Profi nicht gesehen. Sein Co-Kommentator Grant Nisbett, der als Reporter in den letzten 30 Jahren schon über 300 Spiele der All Blacks kommentiert hat, hielt sich ebenso nicht mit Superlativen zurück: „Wir haben eines der bemerkenswertesten Spiele der Rugby-Geschichte gesehen.“
Australiens Fans sahen sich um einen verdienten Sieg beraubt, hatte ihr Team doch das Spiel über weite Strecken dominiert - 61% Ballbesitz, 61% des Spielgeschehens in Neuseelands Hälfte, mehr Ballvorträge, mehr Meter mit dem Ball und viel mehr Angriffszeit in Neuseelands 22. Umso schwerer wog die Tatsache, dass der neuseeländische Unparteiische Paul Williams mehrere spielentscheidende Situationen zu Ungunsten der Gäste entschied.
Australiens erster Versuch durch Koroibete
Allen voran der dreiste Ballklau von Ersatz-Stürmer Tupou Vaa’i in der Nachspielzeit, nur wenige Zentimeter vor der neuseeländischen Linie, genau mittig. Der Zweite-Reihe-Hüne befand sich selbst auf dem Boden, das Ruck stand bereits, dennoch konnte er sich nicht zurückhalten und schaufelte das Leder für fast alle offen ersichtlich auf die eigene Seite. Der fällige Straftritt wären drei sichere Punkte und damit der erste Sieg der Australier auf neuseeländischem Boden seit mehr als 19 Jahren gewesen. Bereits zuvor hatte das Schiri-Gespann übersehen, dass Rieko Ioane direkt vor dem ersten Neuseeland-Versuch mit dem linken Fuß im Aus war.
Australiens größtes Boulevard-Blatt Daily Telegraph sprach von einer „Schande“, betonte aber ebenso, dass Australien über die 89 Minuten in Wellington seine „Liebe zum Rugby wiederentdeckt“ habe. Jahre des Scheiterns gegen die übermächtigen All Blacks und ausgerechnet das neuformierte Team im ersten Spiel unter Neu-Trainer Dave Rennie liefert eine derartige Leistung ab. Der Bledisloe Cup könnte nach 19 Jahren erstmals wieder in australische Hände wandern.
Australien zeigte früh, dass man nicht nur als Sparrings-Partner gekommen war
Von der ersten Minute an hatten die Wallabies druckvoll gespielt und waren nicht wie zuletzt unter Micheal Cheika bei Duellen in Neuseeland wie das Kaninchen vor der schwarzen Schlange erstarrt. Im Gegenteil: Die Wallabies mit ihrem unerfahrenen Zweite-Reihe-Duo Phillip und Salakaia-Loto, sowie dem brutalen Ballträger Taniela Tupou (Tongan Thor) krachten immer wieder gnadenlos in die neuseeländische Defensive und schafften es so ein ums andere Mal über die Vorteilslinie.
Dazu zeigte sich das Team auch in der Defensive weitaus konsequenter - der als erster Innen auflaufende Spielmacher Matt To’omua setzte früh einige krachende Hits. Einzig: Es sollte anfangs nichts Zählbares dabei rausspringen. Zwei Ausflüge tief in Neuseelands 22 endeten mit einem Straftritt für den Gastgeber, der in den Rucks öfter Bälle klauen vermochte. Die All Blacks zeigte sich im Gegenzug gnadenlos und ließen die Australier für ihre mangelnde Effektivität bluten.
Der in letzter Minuten für Beauden Barrett ins Team gerutschte Damien McKenzie startete einen Konter-Angriff in der eigenen Hälfte. Der flinke Schluss der All Blacks passte auf Rieko Ioane, der den ersten Verteidiger umkurvte - der Ball wanderte schnell hinüber zu Jordie Barrett, der an der Eckfahne einlaufen konnte. Australiens Defensive hatte nach einem Kickduell unsortiert gestanden und sich die Vorteile der ersten Minuten zu Nichte gemacht - allerdings hatte Ioane einen Fuß auf die Auslinie gesetzt, der Versuch hätte nicht zählen dürfen.
Bei äußerst windigen Bedingungen gelang es Barrett nicht, den eigenen Versuch zu erhöhen - 5:0 für Neuseeland. Bis zur Pause wurde die Partie weiter intensiv geführt, bis auf jeweils einen Straftritt auf beiden Seiten, gab es aber nichts Zählbares zu vermerken. Australien schien vor der Pause noch drauf und dran, den Ausgleich zu erzielen. Per Strafkick erhielten die Wallabies eine Gasse in der Hälfte der Neuseeländer - doch der geplante Spielzug von der Gasse aus ging schief, Neuseeland bekam das Leder unerwartet und konterte sich ins Malfeld der Wallabies.
Die Video-Highlights eines verrückten Spiels
Doch Rieko Ioane legte den Ball dort nicht sauber ab, er ließ das Leder kurz vor dem Boden fallen, so dass die Wallabies beim Stand von 8:3 weiter im Rennen waren. Direkt nach der Pause dann aber doch der zweite All-Blacks-Versuch: Die Neuseeländer mit einem eintrainierten Spielzug - angetäuschtes Paket, Hakler Taylor zieht nach rechts und gibt den Innenpass auf den anrauschenden Außen Bridge, der Neuner Smith zum Versuch bedient - 13:3 für Neuseeland nach 44 gespielten Minuten.
Die Wallabies zeigten sich aber unbeeindruckt und dominierten den Rest der Hälfte. Ihr erster Versuch folgte zehn Zeigerumdrehungen später, als Zehner O’Connor und Zwölfer To’omua die Rollen tauschten, O’Connor plötzlich hinter seinem Innen auftauchte und den weiten Ball auf Koroibete brachte, der an der Eckfahne zum 8:13 aus Gästesicht abschließen konnte.
Nur zehn Minuten später der zweite Streich der Gäste: Australien wieder über den Sturm druckvoll in die 22, dort hatte Neuseelands McKenzie die Hände im Offenen am Leder, so dass das Spielgerät unkontrolliert aus dem Ruck rollte. Australiens überragender Gedrängehalb Nic White schaltete am schnellsten und schaufelte das Leder an den anderen australischen Außen - Filippo Dagunu musste nur noch wenige Meter zum zweiten Versuch an der anderen Eckfahne zurücklegen.
Herzschlag-Finale bei orkanartigen Bedingungen
Beim Stand von 13:13 war alles für ein großartiges Finish angerichtet, trotz immer stärker werdenden Regens und orkanartiger Windböen. Erst brachte O’Connor die Wallabies in Minute 74 per Straftritt in Front - der erste Sieg auf neuseeländischem Boden seit 2001 schien zum ersten Mal zum greifen nahe. Doch Neuseeland bäumte sich noch einmal auf und glich mit 90 Sekunden auf der Uhr per Barrett-Straftritt aus. Australien konnte in der Schlussminute den eigenen Ankick sichern und erhielt wenig später die Chance zum Sieg.
Distanz-Kicker Reece Hodge hatte aus sechzig Metern den Matchball auf dem Fuß, als Australien in der zweiten Minute der Nachspielzeit einen Straftritt in der eigenen Hälfte zugesprochen bekam. Hogdges Huf war stark genug für den Monster-Kick, jedoch er traf nur das Gebälk. Australien schaffte es aber den Abpraller zu erobern und sich noch ein Mal bis zur Mallinie vorzuarbeiten. Jedoch herrschte bei den Wallabies Uneinigkeit, ob man nun einen Dropkick versuchen sollte, der zum Sieg gereicht hätte.
Die verrückte Schlussphase in voller Länge
Noch bevor sich O’Connor und To’omua über den siegbringenden Dropkick einig werden konnten, stahl Neuseelands Tupou den Ball - am Boden liegend in einem bereits formierten Ruck - der fällige Straftritt blieb aus und selbst die neuseeländischen Kommentatoren hatten diesen gefordert. Stattdessen hatte nun aber Neuseeland den Ball und trug diesen über unzählige Phasen bis wenige Zentimeter an Australiens Linie heran.
Die Uhr zeigte die 89. Minute an, als Neuseeland dann doch kurz vor der Linie doch noch scheiterte beim Versuch ein Spiel zu entscheiden, das man hätte eigentlich schon verloren haben müssen. Stattdessen endeten zehn vogelwilde Minuten in einem Unentschieden, das irgendwo doch für beide eine Enttäuschung war. Dennoch kann Australien sich als moralischer Sieger fühlen und die Chance auf einen Gewinn des Bledisloe Cups bleibt.
In diesem Corona-Jahr 2020 stehen noch drei weitere Cup-Spiele aus, zwei davon auf australischem Boden. Schon nächsten Sonntag müssen die Wallabies in Aucklands Eden Park erneut gegen die All Blacks antreten, wo keine Wallabies-Mannschaft mehr seit 1986 gewonnen hat. Diesem Team wäre sogar ein Sieg in der Festung des dreimaligen Weltmeisters zuzutrauen, auch wenn die Buchmacher dem australischen Team wie schon vor dem Duell an diesem Wochenende erneut keinerlei Chance einräumen. Wer gedenkt online auf eines der kommendenn Spiele zu wetten, der sollte sich mit dem Thema Sportwetten und Casino ohne deutsche Lizenz vertraut machen.
Die Reaktionen
Dave Rennie (Australien-Coach):„Keine Frage, ich bin stolz auf die Leistung meiner Mannschaft. Wir waren unter Druck anfangs, haben es aber über weite Teile gut verteidigt. Im Gegenzug haben wir sie auch unter Druck setzen können und haben zwei schöne Versuche zum richtigen Zeitpunkt gelegt. Wir hatten am Ende unsere Chance, erst klatscht der Ball an den Pfosten und dann versuchen wir es spielerisch statt mit dem Dropgoal. Nächste Woche müssen wir wieder so verteidigen und dazu an den Kontaktpunkten stärker sein!“
Ian Foster (Neuseeland-Coach) gegenüber AllBlacks.com: „Wir hatten die Chance das Spiel in den letzten zehn Minuten für uns zu entscheiden, waren aber nicht gut genug. Es waren zu viele Fehler, aber daran dürfen wir uns nicht aufhängen. Schlussendlich war es nun Mal ein Unentschieden, das ist für jedes All Blacks Team immer eine Enttäuschung, gleichwohl wissen wir jetzt, wo wir stehen.“