TR-Vorschau Rugby World Cup: Wer bucht den Platz im Finale von Yokohama?
Geschrieben von TotalRugby Team
Freitag, 25. Oktober 2019
Noch vier Teams haben eine Chance auf den WM-Gewinn. Wer schafft den Sprung in das große Finale von Yokohama? Fotos (c) Perlich
Nur noch vier Teams sind im Rennen um den Webb-Ellis-Cup übrig. Samstag und Sonntag früh, jeweils um 10 Uhr deutscher Zeit (live bei ProSieben Maxx), ist jeweils ein Ticket für das Endspiel der Rugby-WM zu vergeben. Anders, als 2015, sind jeweils zwei europäische und zwei Südhemisphären-Vertreter in der Vorschlussrunde der neunten Weltmeisterschaft und tatsächlich besteht noch die Chance auf einen Premierensieg. Wir blicken auf beide Semifinals und bringen euch dabei auch die Prognosen und Analysen der Prosieben-Maxx-Experten Manuel Wilhelm und Jan Lüdeke.
Dass Yokohama der Schauplatz beider Halbfinalspiele und des Endspiels des Rugby World Cups ist und nicht etwa die Hauptstadt und Mega-Metropole Tokio, ist dem Bauchaos beim neuen Olympiastadion Tokios geschuldet, das die Pläne der WM-Organisatoren durcheinanderwirbelte. So finden die wichtigsten Spiele dieser WM im aktuell größten Stadion des Landes statt, in dem 2002 einst Brasilien gegen Deutschland die Fußball-WM gewann. Dabei ist Yokohama nur einen Katzensprung von Tokio entfernt, etwa 15 Minuten mit dem Shinkansen-Schnellzug oder gute 45 Minuten mit dem Auto - die Metropole zählt ebenso zu dem je nach Zählart mit 40 Millionen Einwohnern größten Ballungsraum der Welt im Zentrum der japanischen Hauptinsel Honshu.
Schon immer war es die zweitgrößte Stadt Japans Yokohama, die in etwa so viele Einwohner hat, wie Berlin, die als Japans Tor zur Welt fugierte. Genau hier wurde vor etwas mehr als 150 Jahren das allererste Rugby-Spiel auf japanischem Boden ausgetragen. Absolventen des berühmten Rugby Internats hatten hier den Yokohama Football Club gegründet und so ist es fast schon folgerichtig, dass sich hier entscheidet, wer die Krone im globalen Rugby für die nächsten vier Jahre bekommt.
England - Neuseeland Samstag 26. Oktober, 10 Uhr (dt. Zeit), live bei ProSieben Maxx
Viele Beobachter halten es für das vorgezogene Finale. Die beiden im bisherigen Turnierverlauf souveränsten Teams, das Mutterland und das historisch erfolgreichste Team im Welt-Rugby. Doch für Englands Coach Eddie Jones ist es vor allem eine einmalige Gelegenheit und zwar um die „Geschichte zu ändern“. Man könne mit einem Sieg die All Blacks als das dominante Team im Welt-Rugby ablösen. Wie schwer dies werden dürfte, muss sich Jones nicht ausmalen - schon einmal coachte er ein Team bis ins Halbfinale einer WM und traf dort auf die All Blacks. Es war im Jahr 2003 und der in Australien aufgewachsene Halb-Japaner führte die Wallabies zum Sieg über den Erzrivalen.
Dass die letzten sechs Duelle zwischen England und Neuseeland an die ehemalige Kronkolonie gingen, geschenkt. Im England-Camp betont man die letzten beiden Aufeinandertreffen, in denen Neuseeland jeweils nur mit einem bzw. drei Zählern siegreich vom Feld zog. Und an der Tatsache, dass die Neuseeländer sich erstmals seit 2012 einem völlig fitten Manu Tuilagi gegenüber sehen. Der auf Samoa geborene und brutal starke Innendreiviertel der white Roses hatte damals England fast im Alleingang einen 38-21 Sieg über das Überteam in schwarz beschert. Die Hoffnungen von Jones und einer ganzen Rugby-Nation ruhen auch auf einem mittlerweile gereiften, aber nicht weniger explosiven Tuilagi auf der 13 für England.
Englands Hoffnungsträger vor diesem historischen Duell: Manu Tuilagi
Ihm werden mit Ford und Farrell erneut gleich zwei Spielmacher an die Seite gestellt, die den Bulldozer im England-Mittelfeld mit verwertbaren Bällen füttern sollen. Dies ist auch die einzige Änderung im Vergleich zum hochsouveränen Viertelfinale gegen Australien. Doch vor allem müssen George Ford auf der Zehn und Owen Farrell auf der Zwölf vor allem dafür sorgen, dass England den Dauerdruck der All Blacks gut absorbiert. Dazu wird auch ein gutes Kick-Spiel zählen, dass England den Druck im Ballbesitz nimmt, die Neuseeländer aber nicht zu ihrem brandgefährlichen Konterspiel einlädt. Das dürfte sowohl für Farrell, als auch für Ford ein extrem schwieriger Balance-Akt werden.
Wo die Engländer den All Blacks beikommen können, ist ebenso klar. Ihre Standards sind wohl die weltbesten und die schweren Sturm-Tanks wie Itoje, Lawes und der gegen Australien brillante Sinckler müssen mit ihren Ballvorträgen neuseeländische Verteidiger binden, um Raum für die Finisher um den pfeilschnellen Johnny May zu schaffen. Englands Doppel-Sieben mit den sogenannten „Kamikaze Kids“ Sam Underhill und Tom Curry müssen alles daran setzen, um das brutal schnelle Phasenspiel der Neuseeländer zu unterbinden.
Genau das war den Iren im Viertelfinale von Tokio nicht gelungen. Die All Blacks lieferten über 80 Minuten eine Performance ab, die den anderen drei Halbfinalisten das Fürchten lehren dürfte. Dabei war es gleich zwei Mal Aaron Smith, der davon profitierte, dass die Iren ihre Defensive durch das super schnelle Phasenspiel nicht organisieren konnten. Ohne ihren angestammten Siebener Dan Leavy und mit dem überforderten Van der Flier war es den Iren selten gelungen, die Rucks der Neuseeländer langsam zu machen. Smith musste so das Leder nur zwei Mal schnell aufsammeln und kam jeweils über die Linie.
Kein Wunder, dass in Neuseeland das Rugby-Fieber ungeahnte Höhen erreicht hat, selbst für das wohl Rugby-verrückteste Land der Erde. Parlamentarier, die im All-Blacks-Dress im Plenum der Hauptstadt Wellington debattieren, darunter auch Parlamentspräsident Trevor Mallard. Dabei gehört es sich für Fans des Titelverteidigers nicht wirklich Zurückhaltung zu üben - ein Fan aus Masterton machte mit seinem „Rugby World Cup Winner“ 2019 Tattoo die Runde in den neuseeländischen Medien.
Selbstbewusst oder arrogant? Neuseelands Fans vor dem Halbfinale
Das Neuseeland-Team, von dem eine ganze Nation noch zwei Siege erwartet, will sich davon nicht aus der Ruhe bringen lassen. Kapitän Kieran Read sagte Neuseelands größter Zeitung Herald, dass man tagtäglich mit diesem Druck lebe. Man werde, trotz der Psychospielchen von Eddie Jones, der der versammelten Weltpresse gegenüber darüber philosophierte, wie der unglaubliche Druck die Neuseeländer aus dem Konzept bringen könnte, nichts an der Vorbereitung ändern.
Coach Hansen sprach auf der Pressekonferenz vor dem Spiel von einem „Spiel für die Ewigkeit“ und verkündete eine auf einer Position veränderte Aufstellung für das Halbfinal-Duell mit England. Der gelernte Zweite-Reihe-Stürmer Scott Barrett kommt in die dritte Sturmreihe als Sechser und bietet dort eine weitere Springer-Option in der Gasse und mehr Power bei den Cleanouts. Denn schnelle Bälle, auch gegen die beiden Siebener Underhill und Curry zu garantieren, könnte der Schlüssel zum All-Blacks-Erfolg sein. Eine Niederlage ist aus neuseeländischer Sicht eigentlich undenkbar.
Daran erinnert sich jeder Neuseeländer liebend gerne: Lomu überollt England im Jahr 1995
Drei Mal trafen beide Teams bisher in der WM-Geschichte aufeinander und drei Mal ging Neuseeland als Sieger vom Platz. Besonders das letzte Halbfinal-Duell im Jahr 1995 in Kapstadt ist so ziemlich jedem Rugby-Fan ein Begriff - ein gewisser Jonah Lomu bezwang das Mutterland mit drei Versuchen quasi eigenhändig. Morgen Vormittag in Yokohama deutscher Zeit müsste schon etwas besonderes geschehen, damit England diese düstere Bilanz ein wenig aufhellt. Aber warum sollte dies nicht geschehen - Englands Coach Eddie Jones hat schon einige Rugby-Wunder vollzogen.
ProSieben Maxx Experten-Einschätzungen
Manuel Wilhelm: Auf das Spiel hat die ganze Rugby-Welt gewartet. Ich glaube Eddie Jones hat mit der Herreinnahme von George Ford einen Fehler gemacht, der am Ende den Ausschlag zu Gunsten der All Blacks geben wird.
England 13-24 Neuseeland
Jan Lüdeke: England wird Neuseeland bis auf Äußerste fordern, am Ende werden die Turnier-Erfahrung und das Sieger-Gen aber den Ausschlag für die All Blacks geben.
England 21-31 Neuseeland
Wales - Südafrika Sonntag 27. Oktober, 10 Uhr (dt. Zeit), live bei ProSieben Maxx
Man könnte fast meinen Wales wäre am Sonntag der krasse Außenseiter im zweiten Halbfinalduell, zumindest wenn man den Rugby-Experten um die Globus glauben schenkt - Wales hatte gegen 14 Franzosen ein weitaus härteres Stück Arbeit zu absolvieren, als die Springboks, die zumindest in Durchgang zwei Japan nach allen Regeln der Kunst dominierten.
Dabei haben die roten Drachen die vier letzten Duelle gegen die Springboks seit der letzten WM gewonnen. Doch als es das letzte Mal hieß alles oder nichts, im Viertelfinale der WM 2015, setzte sich Südafrika mit einem späten Versuch durch Fourie du Preez Minuten vor dem Ende an einem regnerischen Tag in London durch. Gedrängehalb du Preez wurde längst durch den blonden Wirbelwind Faf de Klerk ersetzt, doch der damalige Passgeber ist noch immer Teil des Boks-Teams. Achter Duane Vermeulen hatte damals Wales Defensive mit einem Sahne-Offload ausgehebelt und sein Land ins Halbfinale gebracht, wo man knapp den Neuseeländern unterlag.
Eine ähnliche Regenschlacht wird es dieses Mal nicht geben, auch wenn am Freitag Morgen teile des Rasens der Arena von Yokohama noch unter Wasser standen. Doch bei knapp über 20 Grad und weitestgehend trockenen Bedingungen in den nächsten 48 Stunden dürfte der Untergrund und der Regen keine große Rolle spielen. Wales will immerhin Historisches schaffen - zwei Mal schafften es die Waliser bisher ins Halbfinale der WM, aber nie weiter. Zuletzt mussten sie 2011 gegen Frankreich eine sehr knappe und unglückliche Niederlage einstecken. Warren Gatland will in seinem vorletzten Spiel für Wales „etwas besonderes schaffen“.
Zuletzt hatte Wales in den vier Duellen mit Südafrika die Nase vorne
Dabei kokettiert der neuseeländische Coach des amtierenden Six-Nations-Siegers geradezu mit der Außenseiterrolle. „Ich hoffe sie schreiben uns weiter ab“ ließ er auf der Pressekonferenz verkünden. Er habe damit überhaupt kein Problem und sehe Südafrika selbst als den vermeintlichen Favoriten. Man habe sich zuletzt gut gegen die Boks geschlagen und gedenke dies auch am Sonntag zu tun. Taktisch erwartet der erfahrene Headcoach, mit mehr als einer Dekade Erfahrung als Wales-Coach auf dem Buckel, ein Kick-Bombardement der Südafrikaner. Zwar fällt der etatmäßige Schluss Liam Williams mit seiner Konterstärke aus, aber mit Leigh Halfpenny ist ein ebenso sicherer Fänger unter dem hohem Ball als Ersatz parat. Die einzige Sorge unter den walisischen Anhängern, die offensive Harmlosigkeit bisher im Vergleich mit den anderen Top-Nationen. Da wiegt der Ausfall von Williams schwer, denn Halfpenny ist eher ein grundsolider, denn ein aufregender Offensiv-Spieler.
Noch wichtiger wertet man in Wales die Rückkehr von Jonathan Davies. Der in den Augen vieler Experten beste Innen der Welt hatte gegen Frankreich gefehlt und hat sich nun rechtzeitig von seiner Knie-Blessur erholt. Doch das größte Fragezeichen aus Waliser Sicht ist, wie man mit Südafrikas Monster-Sturm umgeht. Die Tight Five der Boks sind Weltklasse, doch was sie vom Rest des Rugby-Universums abhebt, ist die Tatsache, dass sie dazu noch Mal fünf weitere Weltklasse-Stürmer für die erste und zweite Reihe parat haben. Hakler Marx und die Props Kitshoff und Koch werden in der zweiten Hälfte riesigen Druck auf das Gedränge der Waliser machen. Diesem Druck müssen die Scharlachroten abkönnen.
Dann jedenfalls könnte das Team einem ganzen Land einen Traum ermöglichen - kaum eine Nation ist Rugby-verrückter und der Einzug in das Endspiel des Rugby World Cups würde in Cardiff für einen Ausnahmezustand sorgen. Ähnlich verrückt sind aber auch die Boks-Fans daheim in Südafrika und auch bei ihnen könnte es etwas historisches zu feiern geben. 24 Jahre nachdem Nelson Mandela Springboks-Kapitän François Pienaar die WM-Trophäe übergab, könnte Kapitän Siya Kolisi, der erste schwarze Spielführer in der langen Springboks-Geschichte es Pienaar nachmachen. Es wäre ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Versöhnung durch die Rugby, die in Südafrika seit 30 Jahren geschrieben wird.
Unterstützung von prominenter Stelle - Prince of Wales Charles beim Training der Waliser
Tatsächlich gehen die Boks selbstbewusst wie seit langem nicht mehr in dieses Spiel. Coach Rassie Erasmus hat aus dem noch vor wenigen Jahren zerstrittenen Haufen, der gegen Italien unterlag, eine Einheit geformt. Zu den traditionellen Stärken im Sturm hat Erasmus eine aufregende Dreiviertelreihe mit blitzschnellen Finishern aufgestellt. Zwar fehlt mit Cheslin Kolbe der aktuell formstärkste Außen, aber mit Makazole Mapimpi und Sbu Nkosi haben die Boks zwei weitere aufregende Spieler in ihren Reihen. Diese Kombination aus einem ultradominanten Sturm, einem taktisch klug kickenden Verbinder in Handre Pollard, sowie blitzschnellen Außen, könnte für Wales eine Nummer zu viel sein. Auch wenn mit dem Prinz of Wales Charles vorgestern noch ganz hoher Besuch beim Training in Tokio höchstpersönlich viel Glück wünschte.
ProSieben Maxx Experten-Einschätzungen
Manuel Wilhelm: Die ausfälle von Liam Williams und Josh Navidi bei Wales und der Ausfall von Kolbe auf der anderen Seite wiegen natürlich schwer, gegen Frankreich war die sonst so starke walisische Defensive löchrig, Südafrika ist aber auch nicht so kreativ wie die Franzosen. Ich sehe die Boks vorne.
Wales 9-22 Südafrika
Jan Lüdeke: Wales ist für mich bisher offensiv zu schwach, um das Finale zu erreichen. Sie können vielleicht die Physis von Südafrika ganz gut matchen, aber gegen die Geschwindigkeit werden sie Probleme haben.